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Helena Zagrijtschuk im Porträt

Reggio-Pädagogin, Künstlerin, Buchautorin und -illustratorin

 

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Helena Zagrijtschuk wurde 1982 in der Stadt Lemberg in der Ukraine geboren. Schon als Kind war sie von Kunst umgeben. Ihr Vater malte, ihre Mutter studierte Modedesign und nähte viel, später begann auch sie zu malen. Pinsel, Farben, Stoffreste, Nadeln – diese Dinge lagen zuhause immer herum. Mit ihrer Schwester nähte und gestaltete sie im persönlichen „Atelier“ daheim von klein auf. Mit 20 Jahren entschieden sich beide Mädchen nach Wien zu gehen, um zu studieren. Heute hat die zweifache Mutter (Julia 10 Jahre, Markus 14 Jahre) ihr eigenes Atelier und arbeitet künstlerisch mit Kindern und Erwachsenen.

Redakteurin Eva Berger traf sie in ihrem Atelier 100ART-space in Wien zum Interview mit UNSERE KINDER.

Sie haben Architektur studiert – wie sind Sie überhaupt zur Kunst mit Kindern und der Reggio-Pädagogik gekommen?

Meine Schullaufbahn war sehr von Kunst geprägt. Ich habe in Lemberg neben dem Gymnasium eine Kunstschule besucht, danach ein Kunstcollege mit Matura. Das war meine künstlerische Basis. Als ich mit meiner Schwester nach Wien ging, entschieden wir uns für ein Architekturstudium. Wir sahen klare Parallelen zur Kunst. Aber es war mir schlussendlich zu viel Mathematik und Rechnen und zu wenig Kreativität. Nach dem Bachelor habe ich aufgehört zu studieren. Nach der Geburt meines Sohnes hat sich dann einiges verändert. Es waren immer Kinder bei uns, ich habe gemeinsam mit ihnen kreativ gearbeitet. Es hat mir Spaß gemacht. Aber ich wollte auch pädagogische Kenntnisse haben. Ich habe nach einer pädagogischen Richtung gesucht, die weder die natürliche Kreativität von Kindern einschränkt noch Vorgaben macht. So bin ich auf die Reggio-Pädagogik gestoßen. Dieser Zugang hat mich sofort angesprochen. Auf diese Art und Weise arbeite ich gerne. Ich sage Kindern nicht, in welcher Form sie kreativ sein dürfen. Ich lasse mich von ihnen leiten und gehe auf ihre Ideen ein.

Ihre Kinder Julia und Markus waren in dieser Zeit im Vorschulalter – mit ihnen entstand auch die Idee zum Projekt „Entdeck den Klecks“?

Das Projekt war die Abschlussarbeit meiner Reggioausbildung. Eine ausführliche Arbeit, die ich nach dem Abschluss noch weiterentwickelte und in Zusammenarbeit mit meinen Kindern um viele Facetten ergänzte. So entstand die Idee, daraus ein Buch zu machen. Das Buch ist für PädagogInnen, LehrerInnen und alle Personen, die mit Kindern arbeiten – egal ob im privaten oder institutionellen Bereich. Es beinhaltet viele Impulse zum kreativen Arbeiten. Das Thema Kleckse haben meine Kinder gewählt. Ich bin mit ihnen raus in die Natur und habe mich überraschen lassen, welches Thema uns begegnet. Von der spannenden Form einer Wolke sind wir auf einen ähnlichen Klecks an einer Fassade gestoßen, und auch am Boden. Die Idee vom Klecks, der vom Himmel über die Fassade zum Boden gewandert war, fanden meine Kinder spannend. Es sind viele kleine Bilder, Collagen, Bücher und Leporellos entstanden, die Kinder haben am Leuchttisch gearbeitet, wir suchten die Formen überall. Wir formten sie mit unterschiedlichen Materialien, Techniken und Farben. Und obwohl wir so viel ausprobierten, gäbe es wohl noch unzählige Möglichkeiten mehr, das Thema Kleckse zu entdecken.

Sie arbeiten gerne mit Kindern im Vorschulalter. Warum?

Die Kinder sind für alles offen. Sie begeistern sich für viele Dinge und sind neugierig. Ältere Kinder sind es mitunter gewohnt, Anweisungen zu bekommen. Sie fragen nach, wie sie etwas machen müssen, wollen etwas gezeigt bekommen oder die Hilfe von Erwachsenen. Sie haben gern Schritt-für-Schritt-Anleitungen und konkrete Vorgaben und sind enttäuscht, wenn ihnen etwas nicht so gelingt. Die jungen Kinder sind da noch viel freier. Beobachten kann ich auch, dass Kinder, die schon vor dem Schulalter mit mir kreativ gearbeitet haben, eher in der Lage sind, sich ganz offen auf kreative Prozesse einzulassen, auch wenn sie älter sind. Solche Kinder unterscheiden sich von anderen, denn sie haben die Erfahrungen noch im Kopf und können sich an freies, ungebundenes und offenes Arbeiten erinnern.

Am Wochenende geben Sie in der ukrainischen Schule in Wien Kurse. Können Sie uns mehr darüber erzählen?

Dort sind ukrainische Kinder, die von Montag bis Freitag in eine österreichische Schule gehen und am Wochenende dann ihr Wissen vertiefen. Denn im Schulalltag geht es oft nur darum, die deutsche Sprache zu lernen. In unseren Kursen wiederholen sie die Inhalte dann noch einmal, damit sie von Montag bis Freitag besser mitdenken können. Und neben dem normalen Unterricht gibt es eben auch Kurse, die unter anderem ich leite. Dort geht es um Kreativität, einer wichtigen Möglichkeit, um auch traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Seit der Krieg in meiner Heimat ausgebrochen ist, sind in der Schule jedes Wochenende 800 Kinder, die verteilt auf Samstag und Sonntag Kurse besuchen.

Wie geht es Ihnen persönlich, wenn Sie mit Kindern und Familien zusammenarbeiten, die Kriegs- und Fluchterfahrungen verarbeiten müssen?Sie haben selbst auch noch Familienangehörige in der Ukraine.

Hauptsächlich geht es darum zuzuhören. Es gibt viele schreckliche Geschichten, die mir erzählt werden. Und manche habe ich auch selbst erfahren. Meinen Cousin habe ich im Krieg verloren. Und meine Nichte hatte beim Raketenangriff auf Lemberg im Juli großes Glück. Trotzdem wollen gerade viele ältere Menschen das Land nicht verlassen. Auch meine Eltern leben noch dort. Gleich nach Ausbruch des Krieges haben sie einige Monate bei mir und meiner Schwester in Österreich gewohnt. Wir sind ja schon über 20 Jahre hier. Aber dann wollten sie zurück nach Hause. Sie versuchen, irgendwie Normalität zu leben, obwohl mehrmals am Tag der Alarm losgeht. Der Krieg wird schon zur Gewohnheit für die Menschen, die noch dort sind.

Der Krieg hat also auch hier in Österreich ihre Arbeit verändert?

Ich arbeite seither auch mehr mit Erwachsenen. In Österreich sind sehr viele ukrainische Mütter mit ihren Kindern. Die Männer müssen in der Ukraine bleiben, die Mütter und Großmütter sind mit den Kindern hier. Viele von ihnen wollen etwas Kreatives machen. Um Dinge zu vergessen, um ein bisschen Zeit ohne Kinder zu verbringen und um sich mit ihren Erfahrungen auseinanderzusetzen. Beobachten kann ich auch Veränderungen bei den Jugendlichen in meinen Workshops. Sie sind anders geworden, durch den Krieg. Sie sind in sich gekehrt. Auch wenn ich eine große Farbauswahl anbiete, greifen sie zuerst zu grau und schwarz. Vielleicht ein bisschen bunte Farbe dazu. Es ist ein langer Prozess, bis sich das ändert. Erwachsene sind da anders oder haben andere Möglichkeiten, mit ihren Erfahrungen umzugehen. Junge Kinder genauso. Sie machen sich weniger Sorgen, verstehen noch nicht so viel, sind naiv. Das lässt sie freier sein.

Was lässt Sie persönlich frei sein?

Bei der Arbeit mit den Kindern kann ich mich frei fühlen. Ich lerne viel von ihnen, nehme Impulse auf, probiere wieder etwas Neues aus. Alles ist ein Prozess und ständig in Bewegung. Man muss in diesem Leben spontan und flexibel sein. Zumindest ist es ein Vorteil, wenn man so ist. Denn wir wissen nie, was kommt. Vor allem der Krieg hat uns das gezeigt. Mit Ausreden wie „Das mache ich in ein paar Jahren“ oder „Ich bin noch nicht bereit dafür“ dürfen wir uns nicht bremsen. Denn diese Zeit haben wir nicht. Man muss Gas geben und offen sein für die Welt. Räumen wir unsere selbst geschaffenen Barrieren aus dem Weg und suchen uns selbst. Immer wieder.

 

 

Bildnachweis: privat

Eva Berger BEd

Jahrgang 1990. Ausbildung zur Elementarpädagogin und Redakteurin, Studium der Elementarpädagogik, seit Jänner 2023 UNSERE KINDER-Fachredakteurin; Referentin in der Fortbildung


 

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