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Von Erziehung zu Beziehung

Beziehungskompetenz als Säule elementarer Pädagogik

 

UKI_3_2023_Artikel

Zeitgemäße Pädagogik ist bedürfnisorientiert, respektvoll und einfühlsam. Was aber bedeuten Beziehung und Beziehungskompetenz in der elementaren Bildung konkret? Und was bringen sie? Diesen Fragen spürt der folgende Artikel nach – auch im Sinn des bekannten dänischen Familientherapeuten Jesper Juul (1948–2019).

Begeben wir uns in einen Kindergarten und erleben wir, wie Pädagogin Claudia den 3,5 Jahre alten Lauri (Namen verändert) im Garten beobachtet. Lauri steht vor einer Rosenhecke und bewundert eine große, aufgeblühte Rose. Er versucht sie zu berühren, ist aber zu klein. Achtsam verweilt er dort, sein Blick ist stets bei der Blume, er versucht es auf Zehenspitzen und streckt sich, aber es geht sich nicht aus. Claudia nähert sich ihm genauso achtsam: „Das ist eine schöne Blume, nicht wahr? Ich habe sie erst durch dich gesehen. Mir scheint, dass du sie berühren möchtest. Kann das sein?“ Der Junge sagt nichts, er schaut ihr aber in die Augen und nickt stark. Seine Augen strahlen.

Im Endeffekt hat er die Blume dann nicht nur berührt, sondern durfte sie auf einem Stuhl stehend abschneiden, eine Vase aussuchen und den Gruppenraum mit ihr verschönern. Er hatte die Rose behutsam wie einen großen Schatz getragen. So schaut ein „gesehenes”, selbstwirksames Kind aus. Pädagogische Stimmen könnten sagen, man müsse eine Blume nicht abschneiden, man könne die Natur auch ohne Eingriff bestaunen. Ja, natürlich. Aber angreifen konnte Lauri die Rose, wo sie war, nicht.

Es gilt im pädagogischen Handeln zu entscheiden, wozu man „Ja“ und wozu man „Nein“ sagt. Im beschriebenen Fall ging es nicht um Naturschutz, sondern um Selbstwirksamkeit, Entdeckerfreude und Claudias Beziehung zu Lauri, der gesehen und verstanden wurde. Das stärkt und nährt einerseits die Beziehung und andererseits die individuelle Persönlichkeit unmittelbar und kraftvoll.

Resilientere Kinder durch Beziehung?

Die Folgen der Pandemie, ein Krieg in Europa und steigende Kosten belasten Familien. Aufwachsen und Leben finden derzeit inmitten großer Herausforderungen statt, daher brauchen wir alle Resilienz. Gemeint ist damit die Fähigkeit, belastende Lebensumstände positiv zu bewältigen und psychisch widerstandsfähig zu sein. Die elementare Bildung arbeitet mit Resilienzfaktoren wie Selbst- und Fremdwahrnehmung, Selbststeuerung, Selbstwirksamkeit, soziale Kompetenz, adaptive Bewältigungskompetenz und Lösungsfokussierung. (Vgl. Rönnau-Böse, 2020)

Obwohl diese (oft in Projekte verpackten) Themen zweifellos wichtig sind, erscheinen sie mir oft etwas zu „aufgesetzt“. Resilientes Sein wird in der kindlichen Lernwelt wirksam und direkt unterstützt, wenn Kinder signalisieren, dass sie Begleitung, oft auch nur Stärkung, aktiv suchen. Es geht dabei nicht darum, das Freie Spiel zu pädagogisieren, sondern bei Herausforderungen die Selbstwirksamkeitsversuche zu stärken und gleichwürdig in Beziehung zu sein.

Schon 1977 zeigte die erste große Resilienz- Studie von Emmy Werner, die 32 Jahre lang 700 hawaiianische Kinder untersucht hatte, neben den bis heute aktuellen Säulen für Resilienz die große Bedeutung von Beziehungen auf. Das Fazit dieser und zahlreicher weiterer Studien: Werden Kinder „gesehen” und von mindestens einer stabilen sowie zugewandten Bezugsperson begleitet, dann vertrauen sie in sich und in die Welt. Sie sind resilient fürs Leben, sogar angesichts widriger Umstände. Diese Beziehungspersonen waren in den Studien häufig familienfremde Personen wie PädagogInnen, TrainerInnen, Nachbarsfamilien oder Eltern von FreundInnen. (Vgl. Berndt, 2015)

Gleichwürdig agieren und führen – Ein Weg zur Beziehungsgestaltung?

Nicht nur aus der Gehirn- bzw. Sozialforschung wissen wir, dass Menschen von Geburt an sozial und Kinder kompetente Wesen sind. Sie brauchen für ihre altersgerechte Entwicklung Begleitung, Schutz und einen sicheren Rahmen. Daneben ist das Wohl der ganzen Gruppe zu thematisieren und es gilt, unsere persönlichen Grenzen zu beachten. All das begründet die Notwendigkeit, in unseren Interaktionen „in Führung zu gehen“.

Die Angst vor dem Ungehorsam

Wir sind geprägt von einer Gehorsamskultur, die in unserer Gesellschaft jahrhundertelang vorherrschte. Manche überlieferte Haltungen sind sogar gefährlichen Ursprungs. So wurde Johanna Haarers Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ während der NS-Zeit rund siebenhunderttausend Mal verkauft und eifrig gelesen. 1949 kam das Buch, befreit von Nazibegriffen, wieder auf den Markt und blieb dort bis ins Jahr 1987. Uns ist kaum bewusst, dass die Ablehnung des „Verweichlichens“ oder des „Verzärtelns“ sowie die Angst vor „kindlichen Haus-Tyrannen“ auf diese Autorin zurückgehen. (Vgl. Chamberlain, 2010) Nach der Emanzipation der Frau erleben wir heute eine Machtverschiebung im Umgang mit Kindern. Studien belegten, dass Kinder, die sicher gebunden, liebevoll, ja sogar „helikoptermäßig“ begleitet werden, deutlich gesünder und zufriedener sind als autoritär erzogene Kinder.

Erstere suchen aktiv nach sozialen Kontakten und zeigen beim Lernen größeres Engagement und mehr Kreativität. Widerstand gegen Autorität kann als gesunde Autonomiebestrebung gesehen werden. (Vgl. Kohn, 2015).

Liebevoller Umgang führt nicht zu egozentrischen oder „schwierigen” Kindern. Das größte und eher problematische Missverständnis ist eine falsch verstandene Bedürfnisorientierung, in der kein „Nein“ vorkommt. Dies bedeutet ein „Nicht-in- Beziehung-Sein“, ein „Nicht-in-Führung-” und „Nicht-in-Verantwortung-Gehen“ vieler erwachsener Begleitpersonen von Kindern. Dabei lässt nicht die Bedürfnisorientierung viele Kinder haltlos zurück, sondern die fehlende Beziehungskompetenz.

Jesper Juul und seine Kollegin Helle Jensen, eine klinische Psychologin und Familientherapeutin, sprachen sich dafür aus, Beziehungskompetenz als separates, interdisziplinäres Wissensgebiet zu etablieren. Sie definierten den Begriff so: „Beziehungskompetenz ist die Fähigkeit von PädagogInnen, das Kind und seine jeweilige Realität zu sehen und ihr persönliches Verhalten entsprechend anzupassen, ohne die Führungsrolle aufzugeben. Es ist auch die Fähigkeit, authentisch in Kontakt zu bleiben, sowie die Fähigkeit und Bereitschaft, die volle Verantwortung für die Qualität der Interaktion zu übernehmen.“ (Vgl. Juul/ Jensen 2019)

Wenn das gelingt, fühlen sich Kinder gesehen und begleitet, wird unser gemeinsamer Weg zum Geschenk – zu jenem Geschenk, das wir jederzeit zur Verfügung haben.

Beziehung braucht Interaktion

In einem Überblick über US-Forschungen zum Thema ErzieherIn-Kind-Beziehung beschreibt der deutsche Pädagoge Martin Textor sehr eindringlich, dass Fachkräfte überwiegend Zeit mit Anleiten, Organisation oder Vermittlung von Kenntnissen verbringen. Nur zehn Prozent der Zeit pro Tag wenden sie sich einzelnen Kindern zu und zu einem Drittel der Kinder gibt es im Laufe der Woche überhaupt keinen Einzelkontakt. (Vgl. Textor, 2007)

Viel wird zu den Kindern gesprochen, aber wenig mit ihnen. Forschungen zeigten außerdem, dass in mehr als zwei Drittel der Kindergruppen während der Mahlzeiten keine Tischgespräche geführt werden und die Kommunikation der Fachkräfte nicht über die Ablauforganisation des Essens hinausgeht. Dabei eignet sich gerade der Esstisch für gleichwürdige Dialoge, für Erzählungen der Kinder zu Sachthemen oder ihren persönlichen Erlebnissen, Familiendramen, fantastischen Vorstellungen sowie vielfältigen Themen, die sich alle ganz natürlich, in der Interaktion ergeben könnten. (Vgl. Walter-Laager u.a., 2021). Sehen wir diese Erkenntnisse als Einladung, noch mehr Beziehungsmomente im Alltag zu leben!

Beziehung gibt Halt

Kinder sind auf Beziehungen angewiesen, die ihnen Halt geben, ihr Überleben sichern und sie resilient machen. Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen Beachtung sowie Wertschätzung entgegenbringen und die sie dabei unterstützen, soziale Kompetenzen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. (Vgl. Walter-Laager u.a., 2018) Unsicherheiten im familiären Umfeld und in der Gesellschaft können durch sekundäre Bezugspersonen ausgeglichen werden, wenn diese echte und stabile Beziehungen anbieten. Jeder Bildungsort sollte seinen Fokus darauf legen, ein Beziehungsort zu sein. Kinder brauchen gleichwürdige und ganz präsente Beziehungspersonen. Mir ist bewusst, dass die Anforderungen an pädagogische Kräfte ständig wachsen. Deshalb bedeutet ein deutliches „Ja” zur Beziehung auch, manchmal „Nein” zu sagen, um Miteinander-Zeit zu gewinnen.

Gerade in unserer Output-orientierten Welt möchte ich dazu ermutigen, das Wertvolle im Miteinandersein hervorzuheben und nicht nur darauf zu schauen, was wir alles tun. Beziehung und Bindung nähren nachhaltig – kognitiv, emotional und sozial.

 

 

Bildnachweis: denira/shutterstock

Mag.a Ruth Karner

Jahrgang 1976. Studium der Pädagogik in Innsbruck. Familienberaterin nach Jesper Juul ("familylab") in Ottensheim bei Linz; Coach und Supervision für PädagogInnen, Eltern, etc.; Kontakt/Infos: www.ruthkarner.at


 

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