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Die Hand als Werkzeug des Geistes

Flow-Erlebnisse bei Kindern

 

UKI_3_2021_Artikel

Gerade in Corona-Zeiten erlebte das Kochen und Backen eine Renaissance. Im ersten Lockdown war Hefe, in Österreich auch Germ genannt, ein heiß umkämpftes Gut. War hierfür nur das Hamsterkaufverhalten verantwortlich oder besinnen wir uns in Krisenzeiten wieder auf die Qualität des Selbstgemachten? Erleben wir die ausgleichende und stresslösende Wirkung von Do-it-yourself neu? Ist es nicht geradezu meditativ, zu kneten, stricken, falten oder Blumen einzupflanzen? Die Arbeit mit den Händen ist reizvoll, wohltuend und zutiefst menschlich!

Wie viele andere ReformpädagogInnen betonte auch Maria Montessori (1870–1952) die Bedeutung des Tuns – nicht nur für die motorische Geschicklichkeit, sondern auch für die kognitiven Fähigkeiten und die Entwicklung der Persönlichkeit. Sie sprach sogar von der „Intelligenz der Hand“. Nur wer Gelegenheit bekommt, diesem ursprünglichen Bedürfnis nachzugehen, kann eine gesunde Entwicklung zum zufriedenen und ausgeglichenen Menschen durchleben. Geistige Fähigkeiten wachsen nicht von selbst, sondern in der tätigen Auseinandersetzung mit der Umwelt. Die Hände sind die Kontaktstelle zur Umwelt, sind die Greiforgane des Geistes. Sie stellen die Beziehung zwischen dem Ich und der äußeren Welt her. Eine Revolution in der Menschheitsgeschichte war der aufrechte Gang. Das Gesichtsfeld erweiterte sich und die Hände wurden frei zum Greifen. Vielfach setzt das Begreifen das Angreifen voraus.

Für die Persönlichkeitsentwicklung spielt das Tätigsein ebenfalls eine wesentliche Rolle. Indem wir etwas selbst erzeugen bzw. erschaffen, erfahren wir Selbstwirksamkeit und bauen Selbstbewusstsein auf. Die eigenen Muskeln zu kontrollieren ist ein wichtiger Willensakt des Kindes, um sich selbst zu steuern. Es lernt, dass es die Welt um sich verändern kann, aber auch, sich selbst einzuschätzen und „Meister seiner selbst“ zu werden.

Anton beim Brotbacken

Mit viel Geduld und sichtbarer Kraftanstrengung dreht Anton die Kurbel der Getreidemühle immer und immer wieder im Kreis. Es ist gar nicht so leicht, aus Getreide Mehl zu zaubern. Umso besser schmeckt dann aber das selbst gebackene Brot. Tief versunken arbeitet er, ohne sich von seiner Umwelt ablenken zu lassen …

Anton fühlt sich nützlich. Die „echte Arbeit“ macht ihn stolz, unabhängig und selbstständig – eine wichtige Erfahrung in einer Welt, in der Kinder zunehmend von der Teilhabe an der Erwachsenen- und Arbeitswelt ausgeschlossen werden. Nicht umsonst ist der kindliche Wunsch „Hilf es mir selbst zu tun!“ eines der bekanntesten Prinzipien der Montessori-Pädagogik, der viel zu oft unerhört bleibt.

Gerade im Tätigsein lässt sich das Herzstück der Montessori-Pädagogik, die „Polarisation der Aufmerksamkeit“ besonders leicht erreichen. Gemeint ist damit jener Zustand höchster Konzentration, in dem man ganz im Tun aufgeht, ganz bei der Sache und ganz bei sich selbst ist. „Dann höre ich nur noch auf mich…“ beschrieb ein Mädchen in einem Interview einmal dieses Gefühl.

Genau das erlebt Anton in seiner tiefen Konzentration während des Mehlmahlens. Längst steht nicht mehr das Brot im Vordergrund, sondern die Lust und Freude an der Bewegung der Kurbel. Die Verwandlung vom Korn zum Mehl und das Geräusch der Kurbel beim Drehen faszinieren ihn ebenso wie die Präzision der Bewegung, mit der er die Kurbel führt, damit diese sich rhythmisch dreht. Die Arbeit selbst ist das Ziel! Immer weiter mahlen, heißt es und trotz der Anstrengung ist Anton frisch und voll Energie, nicht müde und erschöpft. Er wird nicht nur mahlen, bis genug Mehl da ist, sondern so lange, bis sein innerer Hunger gestillt ist: nicht der Hunger nach Brot, sondern nach einer Tätigkeit, in der er ganz versinken kann.

Polarisation der Aufmerksamkeit

Montessori entdeckte dieses Phänomen bei einem dreijährigen Mädchen, das selbstvergessen über lange Zeit immer wieder die Einsatzzylinder des Sinnesmaterials in die dafür vorgesehenen Ausnehmungen steckte. Sie war überrascht, wie lange sich das Mädchen konzentrieren konnte und so begann sie ein kleines „Experiment“. Sie hob den Stuhl, auf dem die Kleine saß, hoch und stellte ihn an eine andere Stelle. Schnell sammelte das Mädchen ihre Zylinder ein und arbeitete unbeirrt weiter. Auch durch das Singen anderer Kinder ließ es sich nicht von seiner Arbeit ablenken. 44 Wiederholungen zählte Montessori, bis das Mädchen ganz unabhängig von äußeren Einflüssen seine Arbeit beendete. Das innere Bedürfnis war gestillt und das Mädchen „schaute zufrieden um sich, als erwachte es aus einem erholsamen Schlaf“, berichtete die italienische Pädagogin.

Dieses Mädchen blieb kein Einzelfall. Maria Montessori beobachtete wiederholt, dass Kinder diese Fähigkeit noch besitzen, die Erwachsenen manchmal abhanden gekommen scheint. Sie erkannte, dass genau diese Ausdauer, die totale Hingabe und das Eins-Sein mit der Tätigkeit der Stützpunkt sind, auf dem die kindliche Entwicklung aufbaut: „Das ist offenbar der Schlüssel der ganzen Pädagogik: diese kostbaren Augenblicke der Konzentration zu erkennen und zu unterstützen“, schrieb sie. Es ist also Aufgabe der PädagogInnen, Nahrung für den inneren Hunger zur Verfügung zu stellen und gezielte Herausforderungen anzubieten. Ideal sind hierfür handwerkliche Tätigkeiten. „Wenn die Hand zu arbeiten wünscht, müssen wir ihr Gelegenheit geben“, so Montessori. In den 1970er-Jahren ging der ungarische Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi demselben Phänomen bei Erwachsenen auf den Grund und nannte es „Flow“. Auch er beobachtete dies vor allem bei Menschen, die einer Tätigkeit mit den Händen nachgingen – sei es in der Kunst oder im Handwerk. Csíkszentmihályi widmete sich der Frage, welche Tätigkeiten geeignet waren, um in den „Flow” zu kommen und stellte dafür vier Kriterien auf.

Die vier „Flow”-Kriterien

1. Die Aktivität braucht Regeln, die man lernen muss. Lernenden wird die Verwendung des Werkzeugs genau vorgezeigt, langsam und Schritt für Schritt. Csíkszentmihályi verwendet dazu das Bild eines Handwerksmeisters, der einen Gesellen anlernt. Die Präzision und Langsamkeit der Bewegung bringt einen fast zeremoniellen Charakter mit sich. So wird etwa die Übung des Händewaschens mit warmem Wasser und duftender Seife von Kindern oft richtiggehend zelebriert. Sie ist gerade reizvoll, weil man sich genau merken muss, wo die Seife hingehört. Es geht nicht darum, sauber zu werden, sondern zufrieden!

2. Die Tätigkeit muss eine direkte Rückmeldung geben. Am Gleiten des Hobels merken wir, ob wir ihn richtig halten, denn die falsche Handhabe führt sofort dazu, dass dieser sich verhakt. Die in jedem Montessori-Material eingebaute Selbstkontrolle hilft, bei sich und bei der Arbeit zu bleiben. Das Kind muss nicht für eine Kontrolle durch Erwachsene unterbrechen.

3. Das richtige Maß an Herausforderung sorgt für umfassende Konzentration, es bleibt keine Aufmerksamkeit für anderes übrig. Nach und nach, so Csíkszentmihályi, wird ein Meister seinem Gesellen immer schwierigere Arbeiten zutrauen. Mit zunehmendem Können wächst der Schwierigkeitsgrad der Arbeiten. Auch Kinder wachsen an den gut gewählten Herausforderungen, welche eine vorbereitete Umgebung bieten.

4) Die Tätigkeit wird um ihrer selbst Willen ausgeführt. Nicht das Ergebnis, Belohnungen oder Lob ziehen das Kind an, sondern die Arbeit mit dem Material. Das Geheimnis der Vervollkommnung liegt dabei in der Wiederholung. Mit Montessoris Worten ausgedrückt: „Um den Durst zu stillen, genügt es nicht, das Wasser zu sehen, oder nur zu kosten, sondern man muss sich satt trinken.“

Wen wundert es, dass viele Menschen Hobbies wie Töpfern oder Gartenarbeiten als besonders beruhigend und entstressend empfinden? Vor allem der aktive Umgang mit Material fesselt die Aufmerksamkeit und führt so zu einem heilsamen Zustand der Versunkenheit. „Jedes Mal, wenn eine solche Polarisation der Aufmerksamkeit stattfand, begann sich das Kind vollständig zu verändern. Es wurde ruhiger, geistreicher und mitteilsamer. Es offenbarte außergewöhnliche innere Qualitäten, an höchste Bewusstseinsphänomene erinnernd“, erkannte Maria Montessori sinngemäß.

Wann waren Sie das letzte Mal so versunken in eine Tätigkeit, dass Sie glücklich vertieft die Zeit und alles um sich herum vergessen haben?

Bewegende Glücksmomente

Das wertvolle Bewusstseinsphänomen der tiefen Konzentration lässt sich im Umgang mit Montessori-Sinnesmaterial und bei alltäglichen Übungen gut beobachten. Dazu zählen auch handwerkliche Tätigkeiten:

  • die Arbeit am Web- oder Strickrahmen,
  • die Schnittblumenpflege, bei der Kinder liebevoll und sorgfältig Blumen in einer Vase anordnen oder
  • das Schuhputzen, bei dem mit Hingabe so lange poliert wird, bis das Leder glänzt.

„Solche Tätigkeiten sind veraltet“, heißt es oft. Dann gilt es, sich in Erinnerung zu rufen, dass es nicht um das Produkt geht, sondern um die ungemeine Befriedigung, die bei dieser „tätigen Meditation“ empfunden wird. In der Leistungsgesellschaft scheint nur die Effizienz zu zählen, doch Kinder haben Wichtigeres zu tun als materielle Ziele zu erreichen. Sie arbeiten an ihrem Selbstaufbau!

Wie viele Gelegenheiten und Möglichkeiten geben wir Kindern, tätig zu sein? Das handwerkliche Arbeiten, etwa an der Werkbank oder mit der Nähnadel, ist dafür geradezu ideal.

 

Bildnachweis: Sr. Margret Heidi Scheurecker

Mag.a Heidi Jirku

Jahrgang 1982. Ausbildung zur Kindergarten- und Hortpädagogin, Lehramtsstudium für Mathematik, Philosophie/Psychologie und Biologie sowie Deutsch als Fremdsprache. Fünf Jahre Lehrerin in Prag, dzt. als Professorin an der BAfEP Graz und in der Fortbildung tätig.

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