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"Das hab' ich aber noch nicht!"

Kindliche Sammelleidenschft

 

UKI_4_2022_Artikel

Clara sammelt. Erst Steine aller Formen und Farben, später Knöpfe, dann Buben und Männer, die Thomas heißen. Später sattelt sie um auf Teebeutel, die wiederum von originellen Staubknäueln, neuen Wörtern und schließlich sogar von Wurstscheiben abgelöst werden. Gegen jede Idee gibt es Vorbehalte: Papa will keine Felsbrocken aus dem Wald heimschleppen. Die Schuldirektorin stößt sich an Deutschheften mit feuchten Teeflecken. Und Mama lehnt Schimpfwörter bzw. Flüche aus Opas Kegelrunde ab. Warum das Album mit den Wurstscheiben schon nach wenigen Tagen zum Problem wird, bedarf hier keiner näheren Erläuterung.

Soweit eine Kurzfassung des aktuellen, wirklich witzigen und grandios geschriebenen Bilderbuchs „Clara sammelt” von Ursula Poznanski und Ina Hattenauer (Edition Nilpferd 2021). Doch das kindliche Sammeln steht auch im Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen.

Dr. Ludwig Duncker, deutscher Erziehungswissenschaftler und bis 2017 Professor für Didaktik an der Uni Gießen, beschäftigte sich im Rahmen eines Forschungsprojekts ausführlich damit. Gemeinsam mit Katharina Hahn und Corinna Heyd veröffentlichte er das empfehlenswerte Fachbuch „Wenn Kinder sammeln. Begegnungen in der Welt der Dinge” (Friedrich Verlag, Hannover 2014) und stand für diesen Artikel zu einem Interview bereit.

Wie Kinder sammeln

Jegliches Sammeln ist für Duncker ein Phänomen, dem die Forschung lange zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat: „In der Pädagogik hat man oft nur von Beziehungen gesprochen, aber auch die Gegenstände, die uns umgeben, haben einen enormen Einfluss darauf, wie wir leben, wie wir aufwachsen.” Beim kindlichen Sammeln sind zwei Gruppen zu unterscheiden: Es gibt Kinder, die sammeln, was sie finden – oft Dinge, die aus Erwachsenensicht keinen Wert haben oder gar als Abfall gelten, etwa leere Joghurtbecher oder Kronenkorken. Auch die nach kurzer Zeit völlig verschrumpelte Kastaniensammlung beeindruckt Eltern kaum. Auf der anderen Seite gibt es Kinder, deren Sammeltätigkeit mehr an unsere Konsumgesellschaft angelehnt ist. „Dieses Phänomen taucht natürlich nur in finanziell besser gestellten Teilen unserer Welt auf, wie insgesamt kulturelle und soziale Aspekte des Sammelns ein interessanter Untersuchungsgegenstand wären. Hier entwickeln Kinder Strategien, um ihre mitunter kostspieligen Sammlungen zu erweitern. Von wem bekomme ich etwas geschenkt? Führt mein beharrliches Betteln bei Oma und Opa zum Erfolg?”, kommentiert Ludwig Duncker.

Von Kuscheltieren, Matchboxautos und anderem

Johanna ist drei Jahre alt und hat ihre Kuscheltiere sorgfältig auf dem Bett drapiert. Große, kleine, die vom älteren Bruder „geerbten“ und jene, die sie selbst geschenkt bekommen hat. In diesem Fall ist das Sammeln kein Selbstzweck, denn Johanna liebt Rollenspiele. Sie genießt es, „Kuscheltiermama” zu sein. Auch der sechsjährige Michael ist ein Sammler, ihn interessieren Matchboxautos und Tierbücher. Die Autos dürfen kunterbunt sein – neu und glänzend oder aber alt und zerkratzt. Bei den Büchern hingegen ist nur eine bestimmte Reihe gefragt. Gemeinsam mit seinen Eltern informiert er sich über Neuerscheinungen, wägt genau ab, welches Buch er sich wünschen könnte. „Das Sammeln kann völlig über das Ziel hinausschießen und die Industrie nutzt den Drang der Kinder, Dinge haben zu wollen. Als Erwachsene sind wir hier schlechte Vorbilder und es ist wenig verwunderlich, wenn schon die Kleinen an der kommerziell gesteuerten Warenwirtschaft partizipieren wollen”, erläutert Ludwig Duncker die Einflüsse unserer Konsumgesellschaft. Und er trifft klare Unterscheidungen: „Die sehr beliebten Fußballbilder- Sammelalben sind der Tod jeder Fantasie. Es wird viel Geld dafür ausgegeben, nur um das Bild eines Fußballers auf einen genau vorgegebenen Platz zu kleben. Kinder können nicht selbst gruppieren bzw. sortieren, etwa um ihr eigenes Lieblingsteam zusammenzustellen. Ziel ist lediglich, möglichst schnell ein vollständiges Album zu haben, dann ist der Spaß schon wieder vorbei.” Sammlungen anderer Gegenstände, z. B. Spielsachen, werden dagegen häufig intensiv genutzt und lassen viel Freiraum für Entfaltung und Spontaneität, für erste Erfahrungen mit Struktur, mit dem Ordnen und Kategorisieren.

Gesprächsanlässe schaffen

„Wenn man versucht, Sammlungen von Kindern zu deuten oder mit ihnen darüber zu sprechen, ist Sensibilität angebracht. Kinder entwickeln ihre eigene ästhetische Wahrnehmung. Lange bevor sie Begriffe dafür kennen und Überlegungen in Worte fassen können, sind die Vorgänge des Denkens da,” weiß Ludwig Duncker. So nehmen Kinder das Lieblingsstück in die Hand, fügen Dinge zur Sammlung hinzu und entfernen andere wieder – nicht beliebig, sondern gut durchdacht und wohlüberlegt. Auch der Ort, an dem die Stücke aufbewahrt werden, ist von Bedeutung. Gibt es dafür eine eigene Vitrine oder ein Regal? Setzt ein Kind auf Sichtbarkeit? Baut es gar fantasievolle Arrangements, Szenen wie auf einer Bühne – was steht vorne, was bildet den Hintergrund? Oder verschwindet die Sammlung in einem Karton unter dem Bett und wird nur zu speziellen Anlässen hervorgeholt?

Sammeln in der Natur

Die sechsjährige Sofia hat ihre Naturschätze in einer Box mit Unterteilungen untergebracht. Steine, Bucheckern, Schneckenhäuser haben dort ihren genauen Platz. Und es gibt auch einen klaren Bezug zu Sofias aktuellen Vorlieben. Sofia begeistert sich für die Natur, für die Jahreszeiten, entdeckt im Wald winzige Tiere und beobachtet mit viel Geduld. Das Ausdifferenzieren der Wahrnehmung, die Entdeckung feiner Unterschiede so-wie das wiederholte Üben differenzierten Beobachtens sind Fähigkeiten, die Kinder beim Sammeln erwerben.

Nachhaltiger Kompetenzerwerb

Ludwig Duncker zählt weitere Kompetenzen auf: „Natürlich geht es auch ums Erinnern, Sammlungen sind eine Art Gedächtnisbild. Was habe ich im Urlaub gefunden, was hat mir meine beste Freundin geschenkt? Sammlungen sind ein Tagebuch, sind Zeugen der Vergangenheit – gerade, wenn es dabei nicht um materiell Wertvolles geht, sondern eben um genau den einen Glitzersticker. Die Werte und der Geschmack von Erwachsenen sind völlig zweitrangig.”

Auch bei den Ordnungskategorien unterscheiden sich die Prioritäten von Kindern und Erwachsenen fundamental. Nicht immer steckt eine auf den ersten Blick erkennbare Systematik und Ordnung dahinter. Ordnung hat hier nichts Pedantisches und Zwanghaftes an sich, sondern ist kreativ und flexibel. „Mit welchen Knöpfen kann ich Türmchen bauen, mit welchen am besten ein Mondgesicht legen?”, fragt Ludwig Duncker und gibt Einblick in kindliche Denkweisen. Sammlungen sind ein Motor für die Fantasie. Die Bedeutung der Dinge selbst ist ebenfalls variabel und haftet ihnen nicht automatisch an. Dies beschreibt Ludwig Duncker als die „menschliche Zutat”, die ganz und gar von unseren individuellen Wertvorstellungen abhängig ist und die sich selbstverständlich von heute auf morgen ändern kann.

Zwar ist das Sammeln eine zutiefst private Angelegenheit, aber man kann ihm im Kindergarten durch Unterstützung und Thematisierung Raum geben. Alles andere aber ist höchst individuell. Auch die kleine Clara aus dem eingangs zitierten Bilderbuch gibt nicht auf: Am Ende entsteht ein Heft voller „unvergesslicher Clara-Erlebnisse”, das von allen Seiten akzeptiert wird. Einmalig ist dieses Heft obendrein, denn die Erlebnisse gehören ihr alleine.

 

 

Bildnachweis: Mag.a Mirjam Dauber

Mag.a Mirjam Dauber

Jahrgang 1978. Lehrerin und Bibliothekarin in Jenbach/Tirol. Freiberufliche Autorin für Familienmagazinge. Kinder- und Jugendbuchrezensentin, Seminarleiterin und Fortbildnerin. (www.blaetterwald.at)


 

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