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Der singende und tanzende Mensch

Entwicklungspsychologische Überlegungen zur Bedeutung früher musikalischer Bildung

 

UKI_2_2023_Artikel

Es gibt keine Kultur ohne Gesang, instrumentales Spiel und Tanz. Die Erfahrung von Stimme und Rhythmus reicht bis in die Zeit im Mutterleib zurück, ist also sehr tief in der menschlichen Existenz verankert. Vielleicht erklärt dies das menschliche Grundbedürfnis, sich stimmlich und klanglich auszudrücken sowie sich rhythmisch zu bewegen. Welche Bedeutung diesen Ausdrucksformen im menschlichen Entwicklungsprozess zukommt, sei hier in kurzer Form dargelegt.

Menschen suchen nach ihnen entsprechenden Formen des Selbstausdrucks. Schon Kleinkinder versuchen, Melodien nachzusingen, sich tänzerisch im Rhythmus zu bewegen und mit Gegenständen aller Art zu klopfen bzw. Klänge zu erzeugen. Dieser natürliche Drang lässt erkennen, dass es völlige Unmusikalität nicht gibt. Allerdings erhalten immer wieder Kinder für ihre ersten musikalischen Versuche wenig Resonanz. Manchmal verlieren sie schon im Kindergartenalter die Freude, sich singend und tanzend auszuprobieren. Schnell jedoch kehrt diese im gemeinsamen musikalischen Gruppenerleben bei Singspielen und Bewegungsliedern zurück.

Die musikalische Aktivität vollzieht sich primär in der Gruppe. Das Gemeinschaftserleben steigert sowohl den Genuss beim Singen und instrumentellen Musizieren als auch beim Tanzen.

Weil Musik die Freude des Dazugehörens schenkt und das Gefühl vermittelt, einen wichtigen Beitrag zu leisten, festigt sie die soziale Gebundenheit und verleiht Selbstsicherheit. Zugleich stärkt sie durch die Übernahme von individuellen Rollen auch die Autonomie – z. B. beim Solotanz oder bei der Verwendung eines Instruments zur Liedbegleitung.

Vielfältige positive Auswirkungen

Die musikalisch-rhythmische Erziehung unterstützt die kognitive Entwicklung und die emotionale Ausgeglichenheit von Kindern. Hörend, singend und mit Instrumenten experimentierend lernen sie, Klänge zu unterscheiden und zu ordnen. Durch die Aneignung von Liedern üben sie ihr Gedächtnis für Tonfolgen, Rhythmen und Texte und es entsteht jenes Bewusstsein für Strukturen, das beim Erwerb mathematischer Vorstellungen hilft. Wenn wir Klänge durch Tanz in Bewegung umsetzen, schulen wir Koordinationsfähigkeit, Körperbewusstsein bzw. -beherrschung und Ausdrucksvermögen.

Es ist wichtig, diese Wirkungen gezielt anzustreben, etwa durch rhythmisches Klatschen, durch den Einsatz der Stimme in unterschiedlicher Lautstärke oder durch Bewegungsabfolgen, die den gesamten Körper einbeziehen. Ebenso sollte genügend Raum zum individuellen Experiment gewährt werden. Die Erfahrung der Klangund Bewegungssprache bildet die Basis für die musikalische Kreativität – sie ist das Repertoire kreativen Selbstausdrucks.

Rhythmische Bewegung wirkt sich ausgleichend auf die emotionale Befindlichkeit aus, weil sie körperliche Verkrampfungen und psychische Blockaden löst, unsere Bewegungskräfte erhält und zur inneren Balance beiträgt. Aufmerksamkeit und geistige Aufnahmebereitschaft werden gesteigert. Bei unkonzentrierten Kindern bietet es sich an, eine Pause einzulegen und mit ihnen zu singen und sich zu bewegen.

Bedeutung des Singens

Lieder sind ein wichtiges identitäts- und gemeinschaftsförderndes Mittel. Beim gemeinschaftlichen Singen im Kindergartenalter lautet das Hauptziel, dass jedes Kind seine eigene Stimme entdeckt und Freude an dieser Form der Selbstäußerung entwickelt. Es sollte sich in seiner Lust zu singen bestätigt fühlen und sich selbst gerne singen hören.

Darüber hinaus vermittelt jedes Lied durch Tonart, Melodieführung und Rhythmus eine eigene Stimmung, die sich während des Singens auf die Kinder überträgt. Der emotionale Ausdruck wird abgespeichert und kann durch das Wiederholen (z. B. durch unbewusstes Vor-sich-hinsingen) immer wieder abgerufen werden. Indem Kinder sich verschiedenste Lieder aneignen, erweitern sie also ihr Empfindungsspektrum und ihr emotionales Gestaltungsrepertoire. Dafür benötigen sie allerdings Lieder von guter Qualität, deren Texte den emotionalen Gehalt angemessen unterstreichen. Keineswegs sollten nur Kleinkindlieder oder Kurzzeit-Modelieder angeboten werden, vielmehr sind klassische Volkslieder verschiedener Kulturen ein wahrer Schatz. Ein bis zwei neue Lieder pro Woche einzuführen und in das Stammrepertoire zu übernehmen, erscheint durchaus entsprechend.

Das Instrumentenspiel

Im Vorschulalter erlernen nur wenige Kinder zielstrebig ein Musikinstrument. Jedoch fasziniert es alle, mit diversen Gegenständen und einfachen Instrumenten Klänge und Rhythmen zu erzeugen. Sie befriedigen dabei ihre Lust zu experimentieren und sammeln wichtige Erfahrungen: Wie klingen Materialien und Instrumente (Blas-, Zupf- und Schlaginstrumente aus Holz oder Metall)? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Klang, Dauer und Dosierung des Krafteinsatzes beim Atmen oder Schlagen? Alle Reize werden in diesem Zusammenhang intermodal, also sinnesübergreifend, verarbeitet und fördern die Leistungsfähigkeit des Gehirns.

In Krippe und Kindergarten sollte es genügend Gelegenheiten geben, mit Instrumenten zu experimentieren. Dazu bietet sich das „Orffsche Instrumentarium“ an, man kann aber auch einfache Instrumente wie Trommeln, Rasseln, Glocken selbst herstellen. Bezieht man die Kinder in die Herstellung von Klangträgern ein, dann erleben sie den Ursprung der Instrumentalmusik.

Bei der sogenannten Body-Percussion lässt sich der eigene Körper als Instrument benutzen, indem man durch Klatschen, Klopfen auf verschiedene Körperteile, durch Schnippen mit den Fingern oder Stampfen mit den Füßen Töne und Rhythmen erzeugt. Es entsteht ein Gefühl für laut–leise, hoch–tief, lang–kurz, schnell– langsam, zusammen–allein, Pause und Einsatz, Anfang und Ende.

Improvisation und Bewegung

Bei der improvisierten Liedbegleitung lernen die Kinder, sich auf den vorgegebenen Liederrhythmus und die Art und Stimmung des Liedes einzustellen. Ihr Beitrag hat dienenden, untermalenden, interpretierenden Charakter. Dieses instrumentelle Spiel fördert zusätzlich die bewusste Stimmungswahrnehmung und das Einfühlungsvermögen.

Musik drängt dazu, Wahrgenommenes zu „übersetzen“, etwa sich in Bewegungen auszudrücken. Am deutlichsten wird dies im Bewegungslied und beim Tanz. Unter den zahlreichen, mit Bewegungen untermalten Liedern gibt es solche, die nur Finger und Hände einbeziehen, solche mit dem Schwerpunkt Arme (z. B. „Mein Hut, der hat drei Ecken“) und solche, die den gesamten Körper aktivieren. Immer werden musikalisch-sprachliche Sachverhalte leiblich erfahrbar, betonen das ganzheitliche Erleben und sind deshalb bei Kindern besonders beliebt. Sie befriedigen den Bewegungsdrang und fördern die emotionale Ausgeglichenheit und – ebenso wie das instrumentelle Spiel – ganz besonders motorische Koordination und sensorische Integration.

Musik zum Zuhören

Heute sind Kinder meist einem Überangebot an akustischen Reizen ausgesetzt, was die musikalische Entfaltung eher beeinträchtigt. Statt genau hinhören und differenziert wahrnehmen zu lernen, sind sie mit ihren Ohren überall und nirgends. Sie büßen Konzentrationsfähigkeit ein, werden oft emotional unausgeglichen bis aggressiv, um sich gegen die diffus empfundene Reizüberflutung zu wehren. Deshalb ist es wichtig, Kinder zu schützen, indem man die Geräuschkulisse der Hintergrundmusik abschaltet. Andererseits brauchen sie gezielt Musik zum Zuhören – nicht nur Kinderlieder oder Popmusik. Kinder lieben durchaus diverse Musikstile unterschiedlicher Epochen und Kulturen, sie mögen auch Jazz, Folklore, Barock oder Klassik.

Lassen wir Kinder schon in frühen Jahren hörend, tanzend und singend in die musikalischen Traditionen verschiedener Kulturen hineinwachsen – mit behutsamer Begleitung von uns Erwachsenen. 

 

 

Bildnachweis: shutterstock.com/Krakenimages.com

Dr.in Barbara Senckel

Jahrgang 1948. Studium der Psychologie, Philosophie und Germanistik. Psychotherapeutin, Supervisorin, freiberufliche Dozentin und Autorin. Gründerin der "Entwicklungsfreundlichen Beziehung nach Senckel/Luxen" (gemeinsam mit U. Luxen). Kontakt: www.sedip.de


 

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