Ausgabe 3/2022
Kind und Gruppe - beides zählt!
Im Austausch mit PädagogInnen höre ich oft, dass der durch Fachliteratur und Fortbildungen nahegelegte Anspruch, immer noch mehr zu individualisieren, sie angesichts großer Gruppen überfordere. Es gelte, für jedes Kind Entwicklungsdokumentationen anzulegen, Lerngeschichten zu schreiben, individuelle Bildungsangebote zu planen, prompt und feinfühlig auf Bedürfnisse zu reagieren … Die Erwartungshaltung von Seiten der Träger, Eltern und Gesellschaft, bringe Fachkräfte an die Grenzen des Machbaren und sie hinterfragen die Überbetonung der Autonomie. Zurecht besteht die Sorge, dass bei so viel „Ich“ das „Wir“ (also das Gefühl, ein wertvolles Mitglied der Gemeinschaft zu sein) an Bedeutung verliert.
Während der letzten Jahrzehnte rückte die Individualisierung der Bildungs- und Betreuungsarbeit in Forschung und Praxis verstärkt in den Mittelpunkt, während die Bedeutung der Gruppe und die Führungskompetenz von PädagogInnen vergleichsweise wenig Erwähnung finden. Diese Entwicklung macht historisch betrachtet Sinn, denn lange Zeit mussten Kinder sich an die Vorgaben der Institution anpassen und ihre Individualität spielte eine Nebenrolle. Dennoch ist darauf zu achten, dass der Anspruch, die Bildungsarbeit am einzelnen Kind auszurichten, kein Übergewicht bekommt. Elementarpädagogik ist keine Individualerziehung vergleichbar einer Familie, sondern ein gruppenpädagogisches Bildungs- und Betreuungsangebot – und das ist gut so!
Kinder konstruieren ihr Bild von der Welt im Austausch mit anderen Kindern und nicht ausschließlich in der Interaktion mit Erwachsenen. Damit Kinder sich in der Ge-meinschaft Gleichaltriger („Peers“) beheimaten und das Lernpotenzial einer Gruppe wirksam wird, bedarf es einer professionellen Gruppenführung. Der dazu nötige sicherheitsgebende Rahmen entsteht durch das gruppenbezogene, empathische Verhalten der PädagogInnen und durch die Fähigkeit, die Dynamiken in der Gruppe zu regulieren. Stets die gesamte Gruppe im Blick zu haben wie auch im richtigen Moment auf das einzelne Kind einzugehen, ist Teil jener pädagogischen Kunst, die individuelle Entwicklungen mit Gruppenprozessen verbindet, in denen Kinder zu Lerngemeinschaften zusammenfinden. Die Stärke von Kindergärten und -krippen liegt heute mehr denn je in der Wechselseitigkeit individueller und gemeinschaftlicher Prozesse, denn nur so können Kinder Respekt vor den Bedürfnissen anderer erwerben.
Nie geht es in der Beziehung zwischen Individualisierung und Gruppenpädagogik um ein „Entweder-Oder“. Wie stets im Leben braucht es die Ausgewogenheit bzw. Verknüpfung beider Aspekte. Ganz konkret bedeutet dies eine situationsorientierte Methodenwahl, die zugleich individuelle Bedürfnisse und Interessen wahrnimmt wie sie auch Freiräume zur Kleingruppenbildung in anregungsreicher Umgebung unterstützt. Die Beiträge im vorliegenden Fachjournal liefern einen hochaktuellen Diskussionsbeitrag, indem sie die Bedeutung der Gruppe bzw. der Peers für die Entwicklung betonen – sowohl für die Entwicklung der/des Einzelnen wie auch für die Entwicklung von Gemeinsinn und Solidarität.
Anna Kapfer-Weixlbaumer, MA
Fachredaktion
Inhaltsverzeichnis
der Ausgabe 3/2022
Unser Thema
Niemand ist eine Insel - Oder: Unterwegs zur "Gemeinschaft der Vielen"
4
Was macht eine gute Gruppenführung aus - Annäherung an ein pädagogisches Zwickmühlenthema
10
Unterwegs -
12
Den Perspektiven der Kinder auf der Spur - Gemeinsam mit Kindern Qualität entwickeln
13
Unsere Praxis
Peers als soziale Ressource - Gleichaltrige spielen in Bildungs- und Entwicklungsprozessen eine bedeutende Rolle
16
Drei Freunde voller Tatendrang - Praxissplitter
20
Die Gruppe aus Sicht der Kinder - Zusammenleben mit vielen anderen fordert sozial und emotional
21
In dieses Krankenhaus wollten alle ... - Praxissplitter
23
Unsere Lebenswelt
Ein Schulbilderbuch als Brücke - Praxisbeispiel für den Übergang Kinderarten - Schule
24
Unser Porträt
Miho Funakoshi - Professorin an der Pädagogischen Hochschule Fukuoka/Japan
26
Service
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