Ausgabe 5/2022
Selbstbildung braucht pädagogische Anregung
Kinder werden heute oft als „hochtourig Lernende“ bezeichnet. Sie wollen die Welt um sich aus eigener Kraft erkunden, sind neugierig und an allem interessiert, was in ihren Blick gerät. Ihr früher Wissenserwerb ist auf „Selber-tun“ programmiert. Etwas selbst tun zu wollen, kann auch als „Vonselbst- Bildung“ missverstanden werden. Es stimmt, dass Kinder sich in anregungsreichen Umgebungen selbst bilden. Aber sie tun dies weder allein noch – quasi im luftleeren Raum – ohne Anregungen! Vielmehr sind sie auf interessante Gelegenheiten sowie auf die Ideen und das Wissen Erwachsener angewiesen.
Das Verständnis kindlicher Selbstbildungsprozesse hängt mit der einseitigen Interpretation konstruktivistischer Lerntheorien zusammen und wird in der Literatur als „Early childhood error“ bezeichnet. Nicht selten tauchen dazu in der pädagogischen Praxis Unsicherheiten und Fragen auf: Welche Bildungsinhalte soll ich einbringen? Darf ich nur aufgreifen, was direkt von den Kindern kommt? Muss ich im Sinne einer zukunftsfähigen Bildung bestimmte Themen anbieten und bestimmte Kompetenzen vermitteln? Oder ist es meine vorrangige Aufgabe, herausfordernde Lernräume zu gestalten, die dann die Kinder individuell selbst-bildend nützen können? Darf ich den Kindern Spiel- und Werkvorschläge machen oder ist das zu manipulativ? Soll ich mich im freien Spiel der Kinder zurückhalten und nur beobachten oder darf ich mitspielen und Impulse geben?
Eine wesentliche Aufgabe der frühen Bildung ist es, Kindern die „Fenster zur Welt“ zu öffnen, also Welterfahrungen zu ermöglichen. Fensteröffner sind sowohl das Können und die Potenziale, die Kinder in den unterschiedlichsten Interaktionen mit Gleichaltrigen teilen, als auch die reichhaltigen Anregungen durch PädagogInnen. Sowohl erwachsene Bezugspersonen, die eine interessante Umgebung gestalten und sich aktiv einbringen, als auch andere Kinder spielen also im Bildungsprozess eine zentrale Rolle. Kinder bilden sich entlang der Möglichkeiten, die das Umfeld ihnen bietet. Jedes Kind verarbeitet das Erlebte im Kontext bereits vorhandener Erfahrungen bzw. Kenntnisse auf seine Weise und macht sich ein eigenes Bild von der Welt.
Die Beiträge im Fachjournal zeigen Wege, wie eine Balance von pädagogischen Anregungen (instruktiv, vermittelnde Interaktionen) und Selbstbildung gelingen kann und dass dies keinesfalls ein Widerspruch sein muss. Pädagogische Fachkräfte sind in der Verantwortung, kulturell relevantes Wissen und Können an die nächste Generation weiterzugeben. Ihr Wissensvorsprung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens kann dann fruchtbar werden, wenn sie Bildungsimpulse so gestalten, dass darin die Themen der Kinder ebenso Platz finden wie die Kompetenz und Begeisterung der Fachkräfte. Dann werden unsere Einrichtungen lebendige Bildungshäuser, ja „Gasthäuser des Lernens“!
Anna Kapfer-Weixlbaumer
Fachredaktion
Inhaltsverzeichnis
der Ausgabe 5/2022
Unser Thema
Leine lang - Leine kurz? - Pädagogische Verantwortung im Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz
4
Autonomie versus Fremdbestimmung - Angebotspädagogik in Diskussion
9
Ich & Du in guter Balance - Kinder und PädagogInnen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung
12
Unsere Praxis
Sollen PädagogInnen mitspielen? - Überlegungen zur Teilnahme am kindlichen Spielgeschehen
14
Unterwegs - Kolumne
18
Wir errichten eine Lernwerkstatt - Erfahrungsbericht
19
Wie ich lernete, mich auf die Lernprozesse der Kinder einzulassen - Auf dem Weg zur pädagogischen Haltung
20
Unsere Lebenswelt
Wer begleitet PraktikantInnen? - Zur Bedeutung der PraxisanleiterInnen in der Ausbildung
22
Barrierefrei lesen & verstehen - Georg Wimmer über Kriterien der Sprachvereinfachung
24
Unser Porträt
Frau Isa - Street-Art-Künstlerin & Illustratorin
26
Service
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