Ausgabe 5/2017
EDITORIAL
Der Alltag ist die längste Bildungszeit
„Frühkindliche Bildung ist zuallererst Bildung im und durch den Alltag. Der Alltag ist nicht nur die Quelle von Themen, die Kinder interessieren, sondern selbst das wahrscheinlich einflussreichste pädagogische Angebot.“ So lautet eine der Antworten des deutschen Bildungswissenschaftlers Gerd Schäfer auf die Titelfrage seines Buchs „Was ist frühkindliche Bildung?“ (Juventa Verlag, 2001)
In der frühpädagogischen Forschung gilt es inzwischen als unumstritten, dass Betreuung und Bildung untrennbar miteinander verbunden sind. So ist auch die einstige Aufteilung in pflegerische Handlungen durch pädagogische Hilfskräfte und Bildungsarbeit in Form von Bildungsangeboten seitens einer PädagogIn einer ganzheitlichen Sicht von Entwicklung und Lernen gewichen. Die Vorstellung, nach welcher frühkindliche Bildung etwas sei, das man losgelöst vom Alltag vermitteln könne, ist heute überwunden.
Jede Situation im Tagesverlauf kann potenziell wertvolle Bildungsressourcen enthalten. Kinder erwerben erstaunlich viele (wahrscheinlich die allermeisten!) Kompetenzen in Momenten, die nicht von Erwachsenen didaktisch aufbereitet wurden. Die Beteiligung am normalen Alltagsgeschehen ist für Kinder auch ein gutes Gegenmittel zum Überschuss an unkontrollierten virtuellen Erfahrungen aus zweiter Hand. Gleichzeitig wird dabei gelernt, den Tisch fürs Mittagessen zu decken und die Nase zu schnäuzen. Oder für Schnittblumen zu sorgen und eine quietschende Schranktür zu ölen. Oder einen Reifenpatschen am Roller zu flicken – das war übrigens die mit Abstand beliebteste Arbeit aller Buben und Mädchen in meinen Kindergartenjahren. Oder Butter gleichmäßig aufs Brot zu streichen und Zeichnungen einzuscannen. Und, und, und.
Zum professionellen Selbstverständnis von PädagogInnen gehört es, die Nicht-Planbarkeit des Alltags als unerschöpfliche und unersetzliche Ressource zu betrachten. Beispiele dazu finden sich in dieser Ausgabe, etwa die Beschreibung löchriger Strumpfhosen, einer kaputten Gitarre oder spuckender Palmen als willkommene Anlässe für sinnstiftende Erfahrungen. Der Alltag birgt Sensationen! Wenn PädagogInnen die Fähigkeit besitzen, den Reichtum unseres kulturellen Wissens auch in unscheinbaren Alltagssituationen für die Kinder zu erschließen, dann halten Gelassenheit und Leichtigkeit Einzug. Persönlichen Beziehungen, den Gesprächen miteinander und dem lebenspraktischen Lernen wird wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Und Bildung passiert einfach. Allerdings nehme ich in Gesprächen mit PädagogInnen dazu auch viel Unsicherheit wahr und bemerke, dass derzeit viel bewährtes Wissen aus dem Blickfeld gerät.
Mit diesem Fachjournal möchten wir dazu ermutigen, sich gemeinsam mit den Kindern wieder mehr darauf einzulassen, was der Alltag an „echten“ Lebenssituationen bringt, die es zu meistern gilt. Ob der institutionelle Alltag für Kinder anregend und aufregend, mitbeteiligt, offen und geborgen gestaltet wird, liegt an uns allen, an unserer wachen Präsenz, Phantasie und der Bereitschaft, auch unkonventionelle Wege zu gehen.
Inhaltsverzeichnis
der Ausgabe 5/2017
Unser Thema
Ein bisschen Bullerbü - Kinder brauchen verstehbare und (be)greifbare Welten
4
Bildung und Betreuung im Wandel der Zeit- Ein Gespräch über die bleibende Bedeutung des Alltags
8
Unsere Praxis
Und täglich grüßt die Lebenslust ... Lerngelegenheiten im Alltag
10
Bildung passiert ... ... Jessicas Haube/Stärken stärken
14
Alltägliche Bildungsbaustellen- Von löchrigen Strumpfhosen, spuckenden Palmen und kaputten Gitarren
15
Achtung nicht stören - Kind in Entwicklung ...
17
Unsere Lebenswelt
Exzellente Fachkräfte: Wanted!- Impulse aus dem US-amerikanischen "Entwicklungsgemäßen Ansatz"
20
Menschen im Porträt
Tanja Warter - Tierärztin und Journalistin
22
Service
Für Sie - KITOPIA: Im Land der spannenden Pädagogik26
Bücher ... für Sie ausgewählt27
Plattform 32