Ausgabe 6/2021
Erzähl mir (doch kein) Märchen!
Einmal begegneten sich die Wahrheit und das Märchen auf einer Dorfstraße. Das Märchen bunt gekleidet, fröhlich und heiter, die Wahrheit im grauen Gewand. Die Wahrheit klagt: „Niemand will mich einlassen.” Das Märchen antwortet: „Mich lässt man gerne ein, vielleicht weil ich so bunt und heiter bin. Ich muss nicht darben. Mach es doch einfach wie ich.” Seither erscheint die Wahrheit im Märchengewand und das Märchen erzählt von der Weisheit, die sich in ihr verbirgt. (Jüdisches Weisheitsmärchen)
Vor einigen Jahrzehnten sind Märchen etwas in Verruf geraten, weil sie Kindern falsche Vorstellungen und Lebenseinstellungen vermitteln würden. Diesem Vorwurf entgegnete 1977 der berühmte Kinderpsychiater Bruno Bettelheim (1903–1990) im Buch „Kinder brauchen Märchen“ mit seiner These, dass die Wahrheit von Märchen die Wahrheit unserer Fantasie sei. Er sprach von einem „Zauberspiegel für gewisse Aspekte unserer inneren Welt“.
Aus psychoanalytischer Sicht können Märchen Lebenshilfe bieten, weil ihre symbolische Sprache zwar unrealistisch, aber nicht unwahr ist. So verwies etwa der Psychoanalytiker Erich Fromm (1900–1980) darauf, dass die frühe Begegnung mit der Symbolsprache von Märchen geeignet sei, tiefere Schichten der Persönlichkeit zu erkennen und schöpferische Kräfte zu erhalten. In ähnlicher Weise sprach sich bereits vor hundert Jahren die bekannte Wiener Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler für den Einsatz von Märchen aus, weil sie – ohne zu psychologisieren – innere Entwicklungsprozesse veranschaulichen und zugleich das fantasievolle Denken anregen. Auch aktuell setzt die kinderpsychologische Praxis ausgewählte Geschichten und Märchen ein, um Kinder in Krisen zu stärken.
Natürlich sind nicht alle Märchen für Kinder im Vorschulalter geeignet. Jede Geschichte ist einzeln zu betrachten und nach kindgemäßen Kriterien auszuwählen. In meiner Praxis waren bei drei- bis vierjährigen Kindern vor allem sogenannte Kettenmärchen, die das Element des Aneinanderreihens und Wiederholens enthalten, recht beliebt. Die rhythmische Erzählstruktur, oft mit gereimten Passagen, lädt zum spontanen Mitsprechen und Mitmachen ein. Immer mehr Ereignisse werden mit Geräuschen und Bewegungen aufgezählt und verknüpft, bis es zu einem überraschenden Ende kommt. Bekannte Kettenmärchen sind „Das Lebkuchenmännchen“, „Der Ziegenbock im Rübenfeld“ oder das Wintermärchen „Der verlorene Fäustling“. Stets passiert dabei ganz nebenbei lustvolle Sprachförderung!
Märchen und gute Geschichten vermitteln die stärkende Erkenntnis, dass Probleme und Ängste zum Leben gehören, aber zu bewältigen sind, wenn man sich ihnen mutig stellt. Hoffentlich regt Sie dieses Fachjournal dazu an, den Kindern und sich selbst wieder öfter Mutmach- und Hoffnungsgeschichten zu erzählen!
Anna Kapfer-Weixlbaumer MA
Fachredaktion
Inhaltsverzeichnis
der Ausgabe 6/2021
Unser Thema
Es war einmal ... - Die entwicklungsfördernde Wirkung von Märchen
4
Schlinge Schlange - Mit Geschichten Emotionen aufgreifen
9
Quellen der Resilienz - Märchen können Widerstandskräfte stärken
10
Nachgedacht & ausgesprochen - Retter meiner Kindheit
11
Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt! ... - Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga machen Kindern Mut
12
Unsere Praxis
Wenn der Wolf kommt - Märchen helfen, Ängste zu bewältigen
14
Märchen und Geschichten, die bewegen - Psychomotorische Zugänge
18
Praxissplitter - Märchen aus dem Säckchen
20
Unsere Lebenswelt
Was unsere Gesellschaft zusammenhält - Zur Theorie und Praxis des Teilens und Schenkens
21
Unser Porträt
Lene Mayer-Skumanz - Österreichische Kinder- und Jugendbuchautorin
24
Service
Bücher ... für Sie ausgewählt 30
Plattform 34
Inhaltsverzeichnis 2021 35