Zwischen Chaos und Potenzial
Die Garderobe ist nicht nur ein Ort zur Aufbewahrung von Kleidungsstücken, sondern auch ein Raum des Ankommens und Abschieds, des Übergangs, der Beziehungsgestaltung, des Umsorgtwerdens und der Selbstsorge. Obwohl sie ein wahrer Alleskönner im pädagogischen Alltag ist, fristet sie oft ein Schattendasein. Um die Potenziale dieses Bildungsraumes voll ausschöpfen zu können, lohnt es sich, die dort stattfindenden Geschehnisse, Strukturen und Routinen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Fachkraft Monika ist mit den Kindern ihrer Gruppe in der Garderobe, um in den Garten zu gehen. Gerade hilft sie Anton, seinen Reißverschluss zu schließen, als sie Emma von der Toilette nach ihr rufen hört. Die meisten Kinder sind bereits angezogen und warten ungeduldig darauf, endlich in den Garten flitzen zu dürfen.
Es ist laut und hektisch. Klemens sitzt auf Sarahs Platz – sie weist ihn unsanft darauf hin, indem sie ihn schubst. „Sarah, hör auf zu schubsen!“, ruft Monika sofort. Ihr Blick schweift über die wartenden Kinder. Sie bemerkt, dass Ludwig seine Matschhose vergessen hat und dass Theresa unangezogen und verträumt umherblickt. Der Stresspegel in Monika steigt – sie atmet tief durch und versucht, Gelassenheit auszustrahlen, obwohl es in ihr ganz anders aussieht. Monika sehnt den Moment herbei, in dem sie endlich die Gartentür öffnen kann.
Szenen wie diese, sind vielen Fachkräften vertraut. Garderobensituationen bedeuten oft Lautstärke, Hektik, herausfordernde Verhaltensweisen, Konflikte unter Kindern und das Gefühl, niemandem wirklich gerecht werden zu können. Kein Wunder also, dass solche Situationen im pädagogischen Alltag sowohl bei Kindern als auch pädagogischen Fachkräften eher negativ als positiv besetzt sind.
Die Ursache hierfür liegt allerdings nicht nur in strukturellen und räumlichen Gegebenheiten (z.B. geringer Personal-Kind- Schlüssel, lange Wartezeiten, Doppelnutzung von Garderoben und Fluren oder Platzmangel), sondern auch darin, dass die Garderobe Dreh- und Angelpunkt verschiedener Übergänge ist.
Die Garderobe als ein „Ort des Dazwischens“
In der Garderobe vollzieht sich nicht nur der Übergang von drinnen nach draußen, wie er in der eingangs beschriebenen Szene skizziert wurde, sondern sie ist ebenso eine Begegnungszone zwischen Familie und Einrichtung. In der Fachsprache werden diese kleinen, sich mehrfach täglich wiederholenden Übergänge im Tagesablauf auch als Mikrotransitionen bezeichnet. Um diese bewältigen zu können, braucht es eine hohe Anpassungsleistung der Kinder, da sie sich auf neue Räume, Aktivitäten, Personen, Regeln und Abläufe einstellen müssen.
Die Garderobe ist ein Begegnungsort, wo unterschiedliche Betreuungspersonen aus den Lebenswelten Familie und Einrichtung aufeinandertreffen. Als Raum des Dazwischens gelten hier mitunter weder die Regeln des häuslichen Umfeldes noch jene der pädagogischen Einrichtung vollständig. Dies zeigt sich häufig in Tür- und Angelgesprächen: Während Erziehungsberechtigte und Fachkräfte sich austauschen, nutzen manche Kinder den Flur als Rennstrecke … Verhalten wie dieses zeigt, dass sich Kinder mit der Übergangssituation auseinandersetzen und die Transition aktiv praktizieren. Schnell kann sich Unsicherheit breit machen: Wer ist in diesem Moment eigentlich verantwortlich zu reagieren? Die Fachkräfte oder doch die Erziehungsberechtigten? Diese Unsicherheit entsteht durch eine gewisse Rollenunklarheit in der Übergangsphase und zeigt, wie anspruchsvoll die Garderobe in Bezug auf das pädagogische Handeln ist.
Nicht weniger herausfordernd ist der Wechsel von drinnen nach draußen. Hier müssen die Beteiligten mehrere Prozesse und Aktivitäten gleichzeitig bewältigen. Sie sind nicht nur gefordert, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen, sondern müssen auch das An- und Ausziehen – gegebenenfalls mit Unterstützung – meistern. Wie bei jeder Pflegeaktivität erhöht sich klarerweise auch hier das Stress- und Konfliktpotenzial bei allen Beteiligten.
Ein Brennpunkt für Gefühle
Vorfreude auf den Garten, Traurigkeit bei der Verabschiedung, Erleichterung über die Pünktlichkeit, Überforderung durch die vielen Anforderungen – das sind nur einige jener Gefühle, die hier tagtäglich sowohl von Kindern als auch von pädagogischen Fachkräften und Eltern er- und durchlebt werden.
Pädagog*innen sind gefordert, die Kinder bei der Regulierung der unterschiedlichsten Emotionen feinfühlig zu begleiten. Dies kann allerdings erst gelingen, wenn sie sich zunächst mit ihren eigenen Gefühlen verbunden haben. „Selbstregulation vor Co- Regulation“ lautet die Devise in den angespannten Situationen, wie sie sich tagtäglich in der Garderobe vollziehen. Bleiben Gefühle von Fachkräften unverarbeitet, lodern sie im Inneren weiter und kommen unweigerlich in der Interaktion mit den Kindern zum Ausdruck. Dies zeigt sich durch Aussagen wie „Was soll das Theater!?“ oder „Jetzt kannst du dir noch immer nicht selbstständig die Schuhe anziehen!“. Erst wenn sich die Fachkräfte selbst wieder geerdet und beruhigt haben, sind sie in der Lage, überlegt zu handeln und die Kinder bei der Bewältigung ihrer emotionalen Anspannung zu unterstützen.
Hilfreich kann sein, sich sowohl selbstreflexiv als auch aus der Perspektive der Kinder mit diesen Mikrotransitionen auseinanderzusetzen:
- Wie erlebe ich die unterschiedlichen Situationen in der Garderobe? In welchen Momenten fällt es mir schwer, bei mir zu bleiben und angemessen zu reagieren?
- Welche Gefühle tauchen in mir auf? Wie gehe ich mit meinen eigenen Gefühlen in diesen Übergangssituationen um?
- Wie erlebt genau dieses Kind genau diese Übergangssituation? Welche Gefühle könnte das Kind erleben?
- Wie viel Raum dürfen die Emotionen der Kinder einnehmen?
Responsivität als Schlüssel zur Stressreduktion
Garderobensituationen lassen sich durch strukturelle und organisatorische Maßnahmen stressreduzierend gestalten – etwa durch das Gruppieren von Kindern oder durch Ankerplätze. Die Autorinnen Dorothee Gutknecht und Maren Kramer geben dazu in ihrem Fachbuch „Mikrotransitionen in der Kinderkrippe - Übergänge im Tagesablauf achtsam gestalten“ zahlreiche Anregungen. Dennoch bleiben die Übergänge in der Garderobe in der Praxis häufig ein Brennpunkt von Emotionen. Die gute Nachricht: Die Fachkräfte selbst halten den Schlüssel zur Stressentlastung in den Händen und tragen entscheidend dazu bei, wie belastend diese Übergänge erlebt werden. Dies wird in ihrem Interaktionsverhalten sichtbar: Durch Wärme, Humor, freundliche Ansprache, fürsorgliche Berührungen und durch eine liebevolle, zugewandte Haltung kann im kindlichen Gehirn die Ausschüttung von sogenannten „Anti-Stress-Hormonen“ angeregt werden. Dies unterstützt das Kind dabei, seine innere Spannung zu regulieren und wieder in eine emotionale Balance zu finden.
Gutknecht und Kramer betonen, dass ein feinfühlig abgestimmtes Antwortverhalten auf die Signale der Kinder (=Responsivität) zu den wirksamsten Faktoren in solchen Übergangssituationen zählt. Wer responsiv auf die Kinder reagiert und auf ihre Signale achtet, diese richtig deutet und gleichermaßen prompt wie angemessen darauf antwortet, stärkt nicht nur die emotionale Sicherheit und das Wohlbefinden, sondern macht die Garderobe zu einem Ort gelebter Beziehungsqualität.
Die Garderobe als Bildungsort
Geht man der Frage nach, welche Lerngelegenheiten in der Garderobe stecken, denken viele vorwiegend an das selbstständige An- und Ausziehen. Doch wie bereits angedeutet, deckt die Garderobe ein weit vielfältigeres Spektrum an Bildungspotenzialen ab. Neben der Vermittlung von Selbstpflege- und Selbstfürsorgekompetenzen können sich die Kinder hier wichtige emotionale Fähigkeiten, wie die Emotionsregulation, aneignen. Darüber hinaus bietet die Garderobe mit all ihren pflegerischen Tätigkeiten und Gesprächsanlässen unzählige Beziehungsmomente. Anstatt dem Impuls nachzugeben, die Situation so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, sollten diese Momente bewusst genutzt werden.
Sind Mikrotransitionen nämlich gleichbleibend gestaltet, dann verinnerlichen die Kinder die darin enthaltenen, inhärenten Handlungsabläufe und können sie im weiteren Verlauf zunehmend selbstständig abrufen, vorhersagen, durchführen und schlussendlich auch flexibel auf Veränderungen reagieren.
Nie außer Acht gelassen werden sollte, dass durch die Bewältigung von krisenhaften (Übergangs-)Situationen die psychische Widerstandsfähigkeit (Resilienz) der Kinder gestärkt wird. Grundvoraussetzung hierfür sind zuverlässige Beziehungspartner*innen, durch die sie positive Bewältigungsstrategien aufbauen können.
In der Garderobe sehen sich Kinder jeden Tag Alltagsanforderungen konfrontiert, die sie individuell oder kollektiv lösen müssen. Dabei lernen sie unbewusst, beiläufig und ohne jede Didaktik auf eine lebensweltorientierte und selbst gesteuerte Weise. Während Bildungsangebote und -impulse von den Fachkräften bewusst geplant, durchgeführt und reflektiert werden, rückt die Übergangsgestaltung in der Regel jedoch zu selten in das pädagogische Blickfeld. Im Sinn der Qualitätsentwicklung ist es aber essenziell, Übergangssituationen in Teambesprechungen zu thematisieren und Mikrotransitionen in die Jahresplanung zu integrieren. Bei der Planung geht es darum, gezielt zu erfassen, welche Übergänge im Alltag der eigenen Einrichtung stattfinden und Überlegungen zur Form der Ankündigung, zum Ablauf, zu Zuständigkeiten sowie zur Überbrückung von Wartezeiten anzustellen. Diese Aspekte sollten regelmäßig reflektiert und bei Bedarf angepasst werden. Dadurch erhalten auch die kleinen, aber bedeutsamen Übergänge im Alltag mehr Aufmerksamkeit und einen höheren pädagogischen Wert.
Bildnachweis: Franz Josef Rupprecht/kathbild.at

Katrin Holzmann, BEd
Kindergarten- und Hortpädagogin (dzt. in Karenz); Referentin und Evaluatorin zur Interaktionsqualität. Elementarpädagogik-Studium in Linz (PHDL), dzt. Masterstudium in Graz.
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