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Die "falsche Sofie" und der "schlimme Maxi"

Was hören Kinder und was verstehen sie, wenn man über sie spricht?

 

UKI_1_2021_Artikel

Die Arbeit mit Kindern ist zutiefst freudvoll und erfüllend, allerdings auch überaus herausfordernd und anstrengend. PädagogInnen, die gleichermaßen mit vielen Kindern in der Gruppe wie auch mit mannigfaltigen Anforderungen (Erziehung, Bildung, Bürokratie …) konfrontiert sind, können da schon manchmal an ihre Grenzen stoßen. Dann ist es menschlich und normal, dass einem gelegentlich ein unbedachtes Wort herausrutscht. Nicht immer denkt man nach, bevor man etwas ausspricht und nicht jedes Wort wird vorab auf die Goldwaage gelegt.

Manchmal sagt man etwas, das nicht so gemeint war. Aber was machen solch unbedachte Äußerungen eigentlich mit den Kindern, die sie hören?

In meiner täglichen Arbeit als Sprachförderpädagogin bin ich ständig im konstruktiven Austausch mit ElementarpädagogInnen. Oft höre ich, wie KollegInnen untereinander bzw. mit Kindern sprechen. Bisweilen fallen Sätze, die mir zu denken geben wie „Die Sofie ist so eine Falsche!“, „Maxi, du bist so schlimm!“ oder „Die Mama vom Philipp ist voll überfordert und kriegt das mit den Kindern zu Hause gar nicht auf die Reihe. Kein Wunder, dass der sich so aufführt.“

Die Aussagen sind fragwürdig, nicht die PädagogInnen

Wenn ich Sätze wie die erwähnten höre, dann hat das immer einen Grund und eine Vorgeschichte, die die Aussagen erklären, ja vielleicht sogar rechtfertigen. In meinem Beruf begegne ich durchwegs engagierten, kompetenten und mitfühlenden KollegInnen. Ihren Äußerungen liegen meist nachvollziehbare und legitime Beobachtungen zugrunde. Dennoch bleibt oft ein mulmiges Gefühl im Magen bei mir zurück.

Im pädagogischen Alltag gibt es nicht immer einen ungestörten Ort zum vertraulichen Gespräch unter Erwachsenen. Also sprechen PädagogInnen in der Gruppe, im Garten, im Bewegungsraum etc. miteinander – eben dort, wo sie sich aufhalten. Sie reden über Themen, die sie beschäftigen, über die Kinder und deren Eltern. Häufig sind Kinder dabei und hören mit. Viele PädagogInnen glauben, dass Kindergartenkinder ohnehin noch nicht verstehen, was und worüber da gesprochen wird. Ist das wirklich so? Was löst es bei Kindern aus, wenn sie PädagogInnen geringschätzig oder abfällig über sie oder über ihre Eltern sprechen hören? Was bewirken sprachliche Wertungen generell bei Kindern?

Zu diesen Fragen habe ich mit der Psychologin Mag.a Dörte Thea Kollmann, einer Kollegin aus dem psychosozialen Dienst in Kärnten, das folgende Gespräch geführt:

Ab welchem Alter können Kinder Bewertungen verstehen? Ab wann begreifen sie, dass jemand negativ über sie oder ihnen nahestehende Personen spricht?

Es gibt hier verschiedene Forschungsansätze. Die Pränatalforschung beispielsweise geht davon aus, dass Kinder bereits im Mutterleib spüren, wenn negativ über sie gesprochen wird. Kinder spüren – ganz abgesehen von der sprachlichen Inhaltsebene – bereits sehr früh, welche Haltung eine Person ihnen gegenüber einnimmt. Nonverbale Signale (Körperhaltung, Mimik) und Intonation entscheiden mit, welche Botschaft beim Kind ankommt.

Was löst das in Kindern aus? Welche Folgen haben sprachliche Wertungen?

Sprache ist menschheitsgeschichtlich ein eher junges Phänomen. Deshalb ist es weniger die Sprache an sich als vielmehr die Haltung dahinter, die einen Effekt auf Kinder bzw. auf Menschen im Allgemeinen hat. Wir sind Bindungswesen, die einander brauchen und auf die Spiegelung von außen angewiesen sind. Das wissen wir nicht erst seit der Entdeckung der berühmten Spiegelneuronen.

Kinder sind dabei, ihre Persönlichkeit zu entfalten und dabei tut ihnen eine wohlwollende, bejahende Haltung besonders gut. Das sollte sich auch in der Sprache widerspiegeln, die natürlich auch klar Grenzen mitteilt. Wenn aber ein Kind immer wieder hört (und vor allem fühlt), dass es nicht passt, so wie es ist, dann kann sich das langfristig auf sein Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeitserleben auswirken. Schlimmstenfalls ergeben sich daraus lebenslange Hemmungen …

Kann denn z. B. ein 4-jähriges Kind wirklich absichtlich „falsch“ sein? Also überblickt es kognitiv bereits den Ursache- Wirkungs-Horizont, sodass man ihm aktive Berechnung unterstellen könnte?

Kinder können „falsch“ im Sinn von unehrlich sein, wenn sie bereits die Erfahrung gemacht haben, dass Echtheit nicht geduldet oder erwünscht ist. Den Ursache-Wirkungs- Horizont seines Verhaltens überblicken selbst Erwachsene nicht immer. Wir entwickeln Verhaltensweisen und behalten diese bei, sofern sie eine Funktion erfüllen und wir einen Vorteil daraus ziehen können (der manchmal gar nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist). Bei genauerem Hinsehen erschließt sich jedoch zumeist der größere Zusammenhang. Ein Kind, das sich augenscheinlich „falsch“ verhält, sollte nicht gescholten, sondern immer wieder zu Echtheit animiert werden. Hier sind Kinder auf Erwachsene angewiesen, die imstande sind, den Ursache-Wirkungs-Horizont zu überblicken und geeignete Verhaltensalternativen aufzuzeigen.

Es gibt viele Situationen, in denen Kinder direkt abwertend angesprochen werden („Du bist so schlimm!“). Man will der Erziehung dienen, indem man meint, Kinder in bestimmten Situationen zurechtweisen und maßregeln zu müssen. Doch wie sinnvoll ist das? Welche Auswirkungen hat es auf das Verhalten bzw. die tatsächlichen Reaktionen der Kinder – und welche auf ihre Psyche?

Kein Kind hat jemals etwas Sinnvolles aus Sätzen wie „Du bist so schlimm“ gelernt. Hinter diesem Satz steht eine Du-Botschaft, die weniger ausdrückt, dass mit dem Verhalten des Kindes etwas nicht stimmt, sondern vielmehr das ganze Kind an sich in Frage stellt. Häufen und verdichten sich diese Art von Du-Botschaften, vielleicht sogar aus verschiedenen Quellen, dann kann es zum sogenannten „Andorra-Effekt“ kommen. Benannt wurde dieser Effekt nach dem gleichnamigen Buch von Max Frisch, in dem beschrieben wird, wie die Zuschreibungen des Umfelds – ganz und gar unabhängig vom Wahrheitsgehalt – das Erleben und Verhalten eines Buben maßgeblich prägen, was zu einem tragischen Ende führt. Wertende Zuschreibungen können zu selbsterfüllenden Vorhersagen („self-fulfilling prohecies“) werden. Kinder, deren Persönlichkeit noch im Werden ist, sind besonders empfänglich für Zuschreibungen der Umwelt. Wenn ein Kind immer wieder hört, dass es so oder so sei, wirkt dies stark modulierend auf sein Verhalten und es wird sich mehr und mehr dementsprechend verhalten. Das gilt übrigens auch für positive Zuschreibungen!

Statt Du-Botschaften („Du bist schlimm!“, „Du bist falsch!“) oder Verallgemeinerungen („Immer machst du dies oder jenes“), sind Ich-Botschaften wesentlich sinnvoller, z. B. „Ich möchte nicht, dass …“ oder „Es gefällt mir nicht, dass …“. Damit wird dem Kind statt einer wertenden Zuschreibung eine Orientierung darüber angeboten, was sein Verhalten im anderen auslöst. Kinder zeigen sich meist kooperativ, wenn sie sich gesehen und verstanden fühlen. Insofern ist es günstig, das kindliche Gefühl stellvertretend zu versprachlichen (z. B. „Ich sehe, dass du dich sehr ärgerst …“). Auf diese Weise lernen Kinder zu verstehen und auszudrücken, was in ihnen vorgeht, statt aus dem Affekt heraus zu agieren. Im nächsten Schritt sollte dem Kind immer eine Verhaltensalternative angeboten werden, wie z. B. „Statt zu hauen, möchte ich, dass du dies oder jenes tust“. Je leichter verständlich und je klarer eine Anweisung ist, umso besser umsetzbar ist sie.

Welchen Unterschied macht es, Kinder direkt tadelnd anzusprechen oder negativ über sie zu sprechen? Erwachsene würden hier wohl die Vertrauensbasis ins Spiel bringen: Kritisiert mich jemand direkt, dann kann ich mich rechtfertigen. Höre ich aber jemanden über mich schlecht sprechen, dann fühle ich mich verraten. Empfinden Kinder ähnlich?

Kinder, die bereits ein positives Selbstbild aufbauen konnten und über ein gutes Selbstwertgefühl verfügen, fühlen sich vermutlich – genau wie Erwachsene – verraten oder beschämt. Allerdings gibt es auch Kinder, die es nicht anders gewohnt sind, als dass über sie in der dritten Person gesprochen wird. Diese Kinder verinnerlichen dann früh das Gefühl, dass sie nicht wichtig sind und dass es normal ist, wenn man sie einfach übergeht. Und die Inhalte des Gesprochenen können wie bereits gesagt das kindliche Verhalten verstärken und modulieren. Das Kind hört „So bin ich“ und verhält sich danach.

Was löst es bei Kindern aus, wenn sie hören, dass über Mama oder Papa negativ gesprochen wird?

Das kann ganz unterschiedlich sein und hängt von den Vorerfahrungen ab. Hat ein Kind in seinem Umfeld bereits oft Negatives über seine Eltern gehört, könnte es sich durchaus mit diesen Zuschreibungen identifizieren – nach dem Motto: „So sind wir“. Aber es könnte auch zu einem Loyalitätskonflikt kommen, da für viele Kinder die PädagogInnen eine zentrale Rolle einnehmen. Möglicherweise entwickelt sich das Gefühl, dass die negativen Äußerungen berechtigt sind und mit den eigenen Eltern etwas nicht richtig ist.

Wie können PädagogInnen authentisch und alltagstauglich über Kinder und ihre Bezugspersonen sprechen, ohne die Kinder dabei zu verletzen?

Oberste Regel sollte aus den genannten Gründen sein, nicht neben Kindern über Kinder oder deren Bezugspersonen zu sprechen. Empfehlenswert wären fixe Zeiten im Alltag, in denen die ElementarpädagogInnen sich miteinander austauschen können – ähnlich der Morgenbesprechung in einem Krankenhaus. Diese Zeiten können auch genutzt werden, um das eigene Handlungsrepertoire um jenes der KollegInnen zu erweitern. Vielleicht löst ein Kind in der einen Fachkraft negative Gefühle aus, eine andere aber weiß gut damit umzugehen. Das ist nur menschlich und so könnte voneinander gelernt werden.

Darüber hinaus können Teamsitzungen sehr hilfreich sein, um die Werte und Grundhaltungen, für die eine Einrichtung steht, zu festigen und damit auch die eigene Haltung innerhalb der Gruppe klar vertreten zu können. Dies ist ebenso für die Zusammenarbeit mit den Eltern bedeutsam. Es gibt auch noch die Möglichkeit der Intervision, die bereits vielfach genutzt wird. Die Idee dahinter ist, dass eine außenstehende Person den Blickwinkel maßgeblich erweitert und hilfreich zur Seite stehen kann. Für einen guten Spracheinsatz im Umgang mit Kindern ist die Frage der Rahmenbedingungen und Ressourcen unverzichtbar. Wenn PädagogInnen unter ständigem Druck stehen, dann wird es auch mit Sprachaufmerksamkeit und Reflexion schwierig.

 

Bildnachweis: shutterstock.com

Mag.a Dr.in Jennifer Kresitschnig

Jahrgang 1976. Studium Philologie und Geschichte. Langjährige Lehrtätigkeit im In- und Ausland. Seit 2015 Sprachförderpädagogin in Kärntner Kindergärten, Kinderbuchautorin und Harfenistin. motherandwife.beepworld.de

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