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Die Gruppe aus Sicht der Kinder

Das Zusammenleben mit vielen anderen fordert sozial und emotional heraus

 

UKI_3_2022_Artikel

Für viele Kinder stellt das Erleben der Großgruppe eine persönliche Herausforderung dar und es fällt ihnen schwer, sich als Teil der Gruppe zu sehen oder Konflikte sozial kompetent zu lösen. Sie brauchen vermehrt Unterstützung durch die pädagogische Fachkraft, um sich in der Gruppe zurechtzufinden, nicht überreizt bzw. überfordert zu werden.

Der Transitionsschock

Gerade der Übergang von zu Hause oder von der Kinderkrippe als wesentlich kleinere Gruppe in den Kindergarten erfordert von jedem Mädchen und jedem Buben ab dem ersten Tag enorme emotionale und soziale Fähigkeiten, sowie Impulskontrolle und gesellschaftliche Anpassung an ein bestehendes Gruppensystem. Bisher erlebte das Kind eine meist rasche und individuelle Bedürfnisbefriedigung durch Eltern oder Betreuungspersonen. Nun werden vom Kind bestimmte Kompetenzen erwartet, die eine gelungene Transition kennzeichnen. Dazu zählen:

  • Warten können, bis man an der Reihe ist und sich in einer Reihe anstellen.
  • Für längere Zeit ruhig sitzen bleiben und zuhören, z. B. im Morgenkreis.
  • Weitestgehend selbstständiges Ankleiden oder Umziehen.
  • Den eigenen Hunger bis zur Jausenzeit aufschieben können.
  • Toilettengänge zunehmend allein vornehmen.
  • Mit anderen Kindern ins Spiel kommen.
  • Konflikte verbal lösen usw.

Die Kinder erleben neue Abläufe und Regeln sowie einen mit Bildungsangeboten gefüllten Tagesablauf. Durch die größere Personenzahl in der Gruppe steigt auch der Lärmpegel und die Gruppendynamik nimmt zu. Gehen die Kinder unterschiedlichen Aktivitäten nach und gibt es parallel stattfindende Kleingespräche, dann entsteht ein „buntes Durcheinander“.

Was wird ein dreijähriges Kind tun, das seine erste Woche im Kindergarten erlebt? Es kann sein, dass es …

  • … sich nicht in die große, momentan vielleicht bedrohliche Gruppe hineinwagt und lieber im Schutz seiner Bezugsperson bleibt;
  • … die vielen Szenarien in der Gruppe zurückhaltend beobachtet und versucht, sich einen Überblick zu verschaffen;
  • … von einer Tätigkeit zur nächsten wechselt, da es auf Grund der Menge an Eindrücken und Angeboten nicht recht ins Spiel findet;
  • … unter Begleitung der pädagogischen Fachkraft erste Kontakte mit anderen Kindern knüpft.

Eine für das Kind passende Annäherung ist notwendig, um den „Transitionsschock“ zu mildern. Dennoch kann es passieren, dass selbst nach einer intensiven und bedürfnisorientierten Eingewöhnungszeit Schwierigkeiten im Umgang mit der Gruppe bleiben.

Kennzeichen von Überforderung

Die gestellten Anforderungen und Erwartungen an das Kind, können zu seelischer und physischer Überforderung führen. Gerade für junge Kinder erzeugen Großgruppen enormen Stress. An folgenden Merkmalen lässt sich erkennen, wenn ein Kind mit der Großgruppe überfordert ist und seine Rolle in der Gruppe noch nicht gefunden hat:

  • Aus dem Gruppenraum laufen oder weglaufen.
  • Sich im Laufe des Tages immer wieder verstecken.
  • Die Ohren zuhalten, um den Lärm zu vermindern.
  • Lautes Sprechen, um die Lautstärke der anderen zu übertönen und sich selbst zu hören.
  • Weinerlichkeit und emotionaler Stress.
  • Häufige Konflikte mit anderen Kindern und scheinbar grundlose Aggression (was natürlich auch mit noch mangelnder sprachlicher Ausdrucksfähigkeit zu tun haben kann).
  • Müdigkeit und Teilnahmslosigkeit.
  • Sich bei Informationen durch die Fachkraft nicht angesprochen fühlen.
  • Eigene Wege gehen, indem es seine Vorstellungen umsetzt und sich nicht auf das Spiel oder die Vorschläge anderer einlässt.
  • Stören und Blödeln während der Bildungsangebote in der Groß- und Teilgruppe.

Sozial-emotionale Entwicklung und Gruppenverhalten

Inwieweit sich ein Kind in eine Gruppe eingliedert, mit anderen interagiert und sich in fremde Gefühlslagen hineinversetzen kann, hängt von seinem sozial-emotionalen Entwicklungsstand ab. In altersentsprechender Ausprägung eignet sich jeder junge Mensch soziale und emotionale Kompetenzen an.

Im Kindergartenalter erreichen Kinder wahre Meilensteine der sozial-emotionalen Entwicklung. Sie brauchen jedoch Zeit und Unterstützung, um sich die notwendigen Kompetenzen anzueignen. Es ist wichtig, die Anforderungen zurückzunehmen und sich der fortwährenden Anstrengung, die Kinder in ihrem neuen Alltag leisten, bewusst zu sein. Kinder handeln sozial und emotional immer nach ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten.

Der Umgang mit Vielfalt

Eine Kindergartengruppe ist als eigenes sozio-kulturelles System zu betrachten. Sie bildet im Kleinen die Gesellschaft ab – Alter, Entwicklungsstand, Fähigkeiten usw. als „kleine Vielfalt“, sowie Kultur, Religion und Herkunft als „große Vielfalt“. Jede Gruppe beinhaltet die Grundlage für das Erlernen sozialer und emotionaler Kompetenzen. Sie ist ein reales Übungsfeld, um sich zunehmend mit Herausforderungen auseinanderzusetzen und eigene Handlungsstrategien zu finden. Hierfür benötigen Kinder fachliche und erzieherische Unterstützung (besonders wenn sie in der Großgruppe Überforderungmerkmale zeigen Hilfestellungen für die Herausforderung „Großgruppe“ könnten sein:

  • Viele Tätigkeiten in Kleingruppen ermöglichen: Kinder im Alter unter vier Jahren agieren vorwiegend in der Kleinstgruppe (max. drei Kinder) und ihr Spiel ist durch spontanen Beziehungskontakt geprägt. Soziale Beziehungen werden in der Kleingruppe erlernt und aufgebaut, potenziellen Konflikten wird möglichst ausgewichen. Dem Freispiel ist demnach möglichst viel Zeit und Raum zu geben. Aktivitäten in der Großgruppe können schnell überfordern und sollten daher in ihrer Dauer und Häufigkeit angepasst werden.
  • Räume öffnen: Ein voller Gruppenraum bringt Dynamik und Lautstärke mit sich. Die Ausweitung von Arbeits- und Spielbereichen auf Garderobe, Flur, Bewegungsraum, Bibliothek oder andere Mehrzweckräume, sowie auf Terrasse und Garten nimmt Hektik und Unruhe aus der Gruppe. Dem sogenannten „Pferchungseffekt“ wird durch die Ausweitung des Raumangebotes entgegengesteuert und es erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder ihr Spiel nicht gegenseitig stören. Sie erleichtert zudem das Eingehen auf individuelle Bedürfnisse und reduziert die Komplexität der Gruppensteuerung.
  • Rückzugsmöglichkeiten schaffen: Jederzeit sollte Kindern die Möglichkeit zu Erholung und Entspannung zur Verfügung stehen, damit sie ihr körperliches und psychisches Gleichgewicht wieder herstellen können. Es bieten sich Rückzugsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb des Gruppenraumes an (Zelt, Platz und Material zum Höhlen- oder Schachtelhäuserbauen, Kriechtunnel, Hängematte/-schaukel, Sensorikbad, Snoezelenraum etc.).
  • Ansprechende Bildungsangebote: Eine Strategie zur psychologischen Reduzierung der Gruppengröße liegt in der Attraktivität von Angeboten. Kinder zeigen sich bereit, größere Gruppen problemlos zu ertragen, wenn das dort Angebotene einladend ist. Dies bezieht sich auf das Material, die Beschäftigungsmöglichkeiten, die anderen Kinder, die Raumgestaltung und die Außenanlagen, aber auch auf die Beziehungsqualität zur pädagogischen Fachkraft. Weil nicht alle Kinder sich für das Gleiche interessieren, ist auch die Vielfalt der Angebote zu berücksichtigen. (Vgl. Dollase)
  • 1:1-Zeiten: Auf Grund des unzureichenden Personal- Kind-Schlüssels ist es kaum möglich, sich einzelnen Kindern länger zu widmen. Um sich aber beispielsweise gezielt zehn Minuten für ein Kind wortwörtlich „freizuspielen“, empfiehlt es sich, in den Arbeits- und Spielbereichen Aktivitäten anzubieten, die von den Kindern selbstständig umgesetzt werden können. Das Anbieten eines neuen Spiels oder Materials wäre an einem solchen Tag nicht ideal. Gerade zu Kindergartenbeginn ist es hilfreich, bestimmten Kindern „exklusive Zeit“ zu bieten, in der sie ihren Wohlfühl-Tank wieder aufladen und den emotionalen Stresspegel abbauen können. Bei Kindern, die sehr viel Zuwendung, Hilfe und persönliche Lenkung benötigen, ist der Antrag auf zusätzliche „1:1-Betreuung“ zu überlegen. So erhalten sie alle nötige Unterstützung im Tagesgeschehen und sie können ihrem Entwicklungsrhytmus entsprechend tätig werden.

 

 

Bildnachweis: Jasmin Gödl

Mag.a Jasmin Gödl, MA

Jahrgang 1986. Kindergarten- & Hortpädagogin, Studium der Bildungs- & Erziehungswissenschaften sowie Studium der Angewandten Ethik. Seit 2014 Lehrende an der BAfEP Graz.


 

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