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Die Kunst der Selbstberuhigung

Besonnen und gelassen bleiben in der Hektik des Berufsalltags

ElementarpädagogInnen bieten an ihrem Berufsort Kindern eine Atmosphäre des Vertrauens, des Wohlgefühls und der Achtsamkeit im Umgang miteinander. Täglich bemühen sie sich darum, den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Zugleich sind sie Belastungen ausgesetzt: Lärm, zu wenig Fachpersonal, das Fehlen von Dienstzeiten für die Arbeit mit Eltern; dazu steigende Erwartungen von mehreren Seiten. Umso wichtiger ist es für PädagogInnen, Selbstfürsorge zu lernen – darauf zu achten, wie es uns selbst geht und was wir brauchen.

Andrea Lenger-Hartwig in UNSERE KINDER 6/2018

Foto Pusteblume

Ein Klima der Wertschätzung aufrechtzuerhalten ist ein wichtiger Aspekt in der Arbeit von PädagogInnen. Zusätzlich werden Erwartungen von Eltern immer höher, einzelne Kinder fordern mehr Aufmerksamkeit, die Umsetzung des BildungsRahmen- Plans soll zeit-, kind- und entwicklungsgemäß verlaufen und Konzepte müssen überarbeitet werden. Dies kann zu Stress und Überlastung führen. Dazu kommen noch mangelnde Pausen, keine Rückzugsbereiche, kaum Zeitressourcen für Elterngespräche und die Vernachlässigung eigener körperlicher Bedürfnisse wie Trinken, „Alleinezeit“ oder ein stressfreier Toilettengang.

Die körperlichen und psychischen Auswirkungen von dauerhaftem Stress sind uns bekannt: innere Unruhe, Getriebenheit, Kopfschmerzen, erhöhte Reizbarkeit, Müdigkeit und Erschöpfung, Verdauungsstörungen oder Schwindel können Auswirkungen einer ständigen Überlastung durch den Berufsalltag sein. Es ist uns zwar nicht möglich, berufliche Anforderungen im Einzelnen zu verändern, aber wir können unsere individuellen Stressoren (vgl. Kubitschek), wie Perfektionismus und das eigene Wertesystem sowie den Umgang mit herausfordernden Situationen, verändern.

Was ist Selbstberuhigung?

Selbstberuhigung bedeutet, in emotional herausfordernden Situationen die eigenen Gefühle und Empfindungen wahrzunehmen, anstatt automatisch und sofort zu reagieren. Dazu gehört auch, unangenehme Gefühle nicht sofort „weghaben“ zu wollen, sondern es sich zu erlauben, sie zu fühlen.

Der US-Psychologe David Schnarch nennt es „maßvolles Reagieren“, wenn wir uns aus eigener Kraft selbst regulieren, uns unserer Gefühle bewusst werden und es vermeiden, uns von unkontrollierten Emotionen hinreißen zu lassen. Dadurch gibt man sich selbst Halt und sucht diesen nicht im Ausagieren mit Mitmenschen.

Kinder brauchen Erwachsene, die sich selbst trösten und ihre aufgestauten Emotionen nicht an anderen auslassen. Und KollegInnen brauchen ein Team, in dem jede/r auf sich selbst achtet, statt an anderen herumzunörgeln. Nicht zuletzt braucht jeder Mensch sich selbst und will sich selbst bewusst wahrnehmen.

Eine Technik der Selbstberuhigung

Schritt 1:

Atmen Ohne nachzudenken, und ohne dass wir es kontrollieren müssten, atmen wir Tag und Nacht und unser Leben hängt davon ab. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf den Atem legen, bleiben wir im Hier und Jetzt, denn wir können nur jetzt atmen. Der Geist konzentriert sich auf den Atem und somit auf den Körper und das Jetzt. Damit ist der Atem ein idealer Anker für unsere abschweifende Aufmerksamkeit oder eine automatische explosions- oder rückzugsartige Form der Reaktion (Kabat-Zinn). Wir sind es gewohnt, lediglich bis in die Brust zu atmen, die Schultern dabei hochzuziehen oder den Atem anzuhalten, wenn Stress droht. Ein Atmen bis tief in den Bauch ermöglicht es, uns selbst als ganze und freie Person wahrzunehmen. Bewusstes Atmen entschleunigt Reaktionen und lässt uns nach innen schauen und maßvoller werden.

Schritt 2:

Wahrnehmen der eigenen Gefühle – wie geht es mir? Aufgrund des bewussten „In-den-Bauch- Atmens“ wird es möglich, eigene Gefühle erst einmal wahrzunehmen, denn Gefühle sitzen im Bauch. Indem ich mich frage, wie es mir geht, nehme ich mich ernst und erlaube mir, zu fühlen und meinem Ärger, meiner Wut oder meiner Kränkung zuzuhören und als das anzunehmen, was es ist: Ein Gefühl – ohne Bewertung und als Anerkennung eines vorübergehenden Ereignisses, denn: werden Gefühle „gesehen“, verändern sie sich relativ schnell wieder. Wenn wir nicht bemerken, welche Emotionen in uns ausgelöst werden, versuchen wir sie zu vermeiden oder zu kontrollieren, indem eine sofortige Reaktion folgt – entweder in Form übertriebener, maßloser Aufregung oder in Form von Rückzug. Erlebbar wird das, wenn beispielsweise Kinder übermäßig laut und emotional zurechtgewiesen werden oder auf Elternbeschwerden ein Zusammenpressen der Lippen unvermeidbar erscheint. Werden Gefühle aber wahrgenommen, reagieren wir nicht automatisch, sondern haben eine Wahl, welche Reaktion angemessen erscheint. Der Mut, die eigene Wahrheit mit selbstberuhigter Stimme zu vertreten, steigt.

Schritt 3:

Positive Vorannahmen Im systemischen und ressourcenorientierten Denken (Hargens) wird davon ausgegangen, dass Menschen grundsätzlich in positiver Absicht nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihr System handeln. Sie haben, wenn auch nicht immer bewusst, ihre „guten Gründe“ für ihr Verhalten. Diese zu erkennen fällt nicht leicht, wenn es um ein Verhalten geht, das abzulehnen oder gar kränkend ist. Dennoch ist es möglich, sich darin zu schulen, positive Vorannahmen zu entwickeln und nicht jedes Verhalten persönlich zu nehmen. Somit haben Eltern, die sich beschweren, lediglich den Wunsch, ihrem Kind möge es gut gehen (die Beschwerde richtet sich nicht gegen die Person der pädagogischen Fachkraft, sondern ist ein Eintreten fürs eigene Kind). Kinder wiederum, die sich aggressiv verhalten, haben keine alternativen Bewältigungsstrategien und brauchen Hilfe, wie etwa Konflikte anders und ohne Handgreiflichkeiten gelöst werden könnten.

Ein Beispiel:

Alessandro ist ein 6-jähriger Junge, der für sein Alter groß und stark ist – er gilt als „Problemfall“ der Gruppe, weil er oft schlägt, beißt und auch nicht auf Anweisungen der Pädagoginnen reagiert. Heute haben drei Kinder in der Bauecke eine Stunde lang an ihrer Ritterburg gebaut. Alessandro kommt dazu, als die Burg schon fertig ist und will mitspielen. Die Kinder sagen „Nein“, doch Alessandro tritt mit seinen Beinen gegen die Burg, zerstört das gesamte Bauwerk. Mia wird von Bausteinen getroffen und weint. Bevor Alessandro wieder geht, spuckt er Yussuf ins Gesicht.

Diese Situation lädt pädagogische Fachkräfte geradewegs dazu ein, „sich Alessandro vorzuknüpfen“ – so geht das schließlich nicht, er muss zur Verantwortung gezogen werden. Die Gefahr ist groß, dass PädagogInnen lauthals schimpfen, sich ärgern, ihren Frust auf Alessandro auslassen und ihn für „schuldig“ erklären.

Bevor eine automatische, unüberlegte Handlung passiert, empfiehlt sich die Technik der Selbstberuhigung: 

  1.  Dreimal tief in den Bauch atmen – Schultern senken – mich selbst wahrnehmen.
  2. Wie geht es mir? Sitzt Wut und Ärger in meinem Bauch (dies wäre ein schlechter Ratgeber für pädagogische Interventionen)? Finde ich es ungerecht? Nervt Alessandro sowieso schon den ganzen Tag? Finde ich es unerhört? Will ich ihn am liebsten isolieren und weghaben? Wenn ich mich ärgere, sage ich: „Ja, okay, ich ärgere mich“. Ich atme, nehme mein Gefühl wahr – mache erstmal nichts damit.
  3. Positive Vorannahme: Alessandro macht das nicht, um mich zu ärgern. Er wollte mitspielen und es war noch nicht möglich für ihn, mit dieser Frustration umzugehen – hier hat er Entwicklungsbedarf. Er hat seine Gefühle der Enttäuschung ausgedrückt (wenn auch inadäquat). Er wollte dazugehören und hat es nicht geschafft.
  4. Selbstberuhigte Reaktion: Ich gehe z. B. zur Kindergruppe und bespreche, was hier passiert ist.

 

Beispiel 2:

Frau M., eine Mutter, die ihrer Tochter den Großteil der Entscheidungen überlässt und oft überfürsorglich reagiert, spricht die Pädagogin zu Mittag an: „Mias Ballettschuhe sind schon wieder nicht da, sie weiß auch nicht, wo sie sind. Könnten Sie nicht darauf achten, dass die Kinder ihre Sachen nach dem Turnen wieder ins Sackerl geben?“

Der erste Gedanke könnte sein: „Das ist nicht meine Aufgabe, Mia ist fast sechs und kann selbst auf ihre Sachen achtgeben. Außerdem muss sie ja nicht immer ihre Ballettschuhe zum Turnen mithaben und sowieso – bin ich ihre Dienerin?“

Selbstberuhigungstechnik:

  1. Dreimal tief in den Bauch atmen – Schultern senken – mich selbst wahrnehmen.
  2. Wie geht es mir? Nervt Frau M. wieder einmal und will sie mir sagen, wie ich meine Arbeit zu machen habe? Schließlich habe ich 25 Kinder! Ich bin womöglich gekränkt, dass sie mir vorwirft, ich würde nicht gut genug auf die Sachen der Kinder schauen und würde mich am liebsten zur Rechtfertigung wappnen. Oder ich finde es empörend und beleidigend, dass sie mich hier in der Abholsituation so erniedrigt. Ich fühle: „Frau M. nervt“, ich atme und mache erstmal nichts mit diesem Gefühl, als es wahrzunehmen.
  3. Positive Vorannahme: Frau M. wünscht sich das Beste für ihre Tochter. Sie will Mia schonen und ihr in jeder Situation behilflich sein und sie unterstützen. Sie möchte eine gute Mutter sein, die sich für Ihre Tochter einsetzt. Frau M.s Verhalten richtet sich nicht gegen mich, sondern sie agiert für sich und ihre Tochter.
  4. Selbstberuhigte Reaktion: Ich fühle mich nicht persönlich angegriffen, sondern grenze mich freundlich ab, indem ich auf Mia verweise und sie zum Nachschauen in den Turnsaal schicke.

Die Technik der Selbstberuhigung lernt man nicht von heute auf morgen. Dennoch ist es jederzeit möglich, bewusst zu atmen und sich selbst zu verlangsamen. Im alltäglichen Kontakt mit Kindern kann dies ebenso geübt werden wie in Alltagssituationen. Es kostet nicht mehr Zeit, sich selbst zu fühlen, es handelt sich dabei maximal um fünf Sekunden.

Selbstberuhigung ist ein wesentlicher Schritt zur Selbstfürsorge. Besonders Frauen müssen lernen, sich selbst Gutes zu tun und sich ernst zu nehmen.

Selbstberuhigung zu üben ermöglicht, die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart zu lenken, sich in der Situation besser abzugrenzen und sich nicht von Gefühlen überschwemmen zu lassen. Wenn nicht jede Äußerung persönlich genommen wird, gelingt es leichter, maßvoll zu reagieren. Mit dieser wohlwollenden Haltung sich selbst gegenüber sind wir ein gutes Vorbild für Kinder, denn wir werden präsenter und achtsamer im Umgang mit uns selbst und miteinander. Die Fähigkeit zur Selbstberuhigung ist ein wesentlicher Faktor für Psychohygiene und Burnout-Verhütung. 

Bildnachweis: Rob Bayer/shutterstock.com

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