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Erinnern und Merken trainieren

Das menschliche Gehirn als Zentrum allen Lernens

Wie kann es sein, dass Kinder Erwachsene beim Memory-Spiel besiegen, obwohl sie doch viel weniger wissen? Verlieren wir so schnell unsere Merkfähigkeit? Nicht unbedingt, sagt die Hirnforschung. Wir lassen unser Hirn allerdings zu viel arbeiten, sodass es sich manchmal die einfachsten Dinge nicht merken kann. Die Merkfähigkeit nimmt bei Kindern insgesamt zu, aber erlernte Denkmuster können auch in die Irre führen. Je öfter und mit je mehr Sinnen Bahnen im Gehirn angeregt werden, desto sensibler reagieren sie. Das können wir uns zum Beispiel beim Lernen zunutze machen.

Mag. Heidi Jirku in UNSERE KINDER 4/2018

Vielleicht kennen Sie das: Sie möchten sich in ein Kindergarten-Portal einloggen, doch es fällt Ihnen einfach nicht mehr ein, welches Passwort Sie gewählt haben. Was war noch gleich die gute Idee für das Sommerfest? Von den neun Dingen, die Sie unbedingt besorgen wollten, sind nur vier in Ihrem Einkaufskorb gelandet. Auch an den Inhalt des Fachartikels, den Sie in der Pause gelesen haben, können Sie sich nicht mehr besonders gut erinnern. Genauso ist es mit den Englisch-Vokabeln, die Sie vergangene Woche im Kurs gelernt haben. Zu allem Überfluss hat Sie die kleine Amra heute mühelos im Memory besiegt. Sollten Sie sich ernsthafte Sorgen machen? Keine Angst, dies ist ganz normal und keinesfalls ein Anzeichen beginnenden geistigen Verfalls.

Vielleicht haben Sie sich darüber geärgert, ein „Hirn wie ein Sieb“ zu haben. Nun, im Prinzip ist dies gar nicht so falsch, denn eine wesentliche Grundlage des Erinnerns ist das Vergessen. Stellen Sie sich vor, Sie würden niemals etwas vergessen. Was auf den ersten Blick vielleicht verlockend klingt, wäre die reine Katastrophe.

Dies bestätigen Menschen wie etwa die Amerikanerin Jill Price, die sich an jeden Tag ihres Lebens detailliert erinnern kann und dies als unglaublich belastend schildert. Ihr Gehirn ist hingegen ständig damit beschäftigt, Überflüssiges auszusortieren, um Wesentliches klarer herauszustellen. Bloß ärgerlich, wenn Ihr Gehirn andere Dinge für „merkenswert“ hält als Sie! Die gute Nachricht ist: Sie können etwas dagegen tun! Meist ist dies nämlich schlicht und ergreifend eine Frage der nicht ganz optimalen Einspeicherung.

Volle Konzentration

Dass Amra Sie beim Memory besiegt hat, kann zum einen daran liegen, dass Sie durchaus nicht mit der gleichen Euphorie und Konzentration bei der Sache waren wie sie. Nebenher haben Sie den Gruppenraum im Blick behalten und den Konflikt zwischen Ben und Andi beobachtet.

Doch auch, wenn Sie Ihre volle Konzentration auf das Spiel gerichtet hätten, hätte Ihnen dies nicht zwangsläufig eine Niederlage erspart. Dies kann daran liegen, dass Amra noch eine weit größere Anzahl an Verbindungsmöglichkeiten zwischen den Synapsen besitzt und sich daher leicht an viele Details erinnert. Mit zunehmendem Alter wird dieses „Neuronendickicht“ wieder ausgedünnt. Es bleiben nur die Verbindungen bestehen, die intensiv genutzt wurden, diese werden dafür gestärkt.

Man kann sich dies wie ein Straßennetz vorstellen. Amra besitzt viel mehr Wege und Zwischenverbindungen – viele davon führen allerdings auch in die Irre. Zudem sind ihre einzelnen Straßen noch nicht so gut ausgebaut wie die Ihren, man kann nicht so schnell und auch nicht so zielsicher fahren.

Wer langsam fährt, sieht mehr und merkt sich mehr Details. Wer schneller fährt, ist oft effizienter, übersieht aber vielleicht einiges am Wegesrand. Deshalb kann sich Amra sehr gut viele Details – in diesem Fall viele Memorykarten – merken. Dafür kann sie bei weitem noch nicht so gut strategisch vorgehen wie Sie, und deckt zum Beispiel schon einmal gesehene Karten immer wieder auf. Sie denken schon viel stärker in Kategorien als Amra und haben gelernt, Dinge in sinnvolle Gruppen zu ordnen. Daher passiert es Ihnen immer wieder einmal, dass Sie Wasserball und Tennisball aufdecken, da Sie beide unter der Kategorie „Ball“ abgespeichert und als gleich angesehen haben, obwohl der eine klein und gelb und der andere rot und groß ist.

Was Ihnen beim Memory vielleicht schon einmal zum Verhängnis wurde, ist im Großen und Ganzen jedoch ein wichtiger Schritt zu effizientem und dauerhaftem Merken. Obwohl das mühelose Merken mit dem Abbau von Synapsen zunehmend verloren geht, wird Amras Merkleistung trotzdem in den nächsten Jahren insgesamt zunehmen, vor allem durch eben solche Enkodierungsstrategien wie das Kategorisieren und Gruppieren zusammengehöriger Inhalte.

Wissen erzeugt Neugierde

Aber auch ihr zunehmendes Weltwissen wird es ihr erleichtern, neue Inhalte sinnvoll einzuordnen, mit bereits Bekanntem zu verknüpfen und damit leichter abrufbar zu machen. Je mehr wir zu einem Thema wissen, desto leichter fällt es uns, Neues dazu zu lernen. Dieser Effekt wirkt auch, wenn Sie Kinder vor einem Sachgespräch fragen, was sie beispielsweise über Regenwürmer wissen. Die Kinder aktivieren hierdurch die bereits gespeicherte Information. Dies steigert nicht nur ihr Interesse, sondern hilft ihnen auch, neue Informationen leichter in das bestehende Wissensnetz einzubinden, somit tiefer zu verarbeiten und diese später leichter abrufen zu können.

Wiederum kann das Bild vom Straßennetz eine gute Anschauung bieten. Wenn mehr Straßen zu einem Ort führen, ist es viel wahrscheinlicher, dass ich wieder zu diesem finde. Auch Ihnen kann dies beim Merken der Inhalte des gelesenen Artikels helfen. Entdecken Sie im Artikel Ihnen bereits vertraute Aspekte, bzw. denken Sie darüber nach, wie die Inhalte mit Ihrem Wissen korrespondieren, werden Sie sich neue Fakten weit besser merken.

Gefühle helfen beim Merken

Fragen Sie die Kinder nach Ihren Erlebnissen mit Regenwürmern wird zusätzlich die emotionale und persönliche Erfahrung aktiviert, was zu einer noch größeren Verarbeitungstiefe führt. Vielleicht können Sie sich auch noch nach vielen Jahren oder gar Jahrzehnten an ihren ersten Kuss erinnern? Je emotionaler ein Erlebnis ist, desto leichter ist dieses abrufbar. Dies liegt vermutlich an der engen Verknüpfung der Gehirnregionen für die Verarbeitung von Emotionen (der Amygdala) und dem Hippocampus, der für das Einspeichern von Gedächtnisinhalten zuständig ist.

Nun gelingt es Ihnen vielleicht nicht, jeden Lerninhalt von der Englischvokabel bis zum Einkaufszettel zu einem unvergesslichen emotional bewegenden Erlebnis zu machen, aber allein die positive Einstellung und das Interesse stellen eine wesentliche Basis dar. Bei den Kindern versuchen Sie daher, sie durch einen spannenden Einstieg für das Thema zu begeistern. Bei sich selbst kann der einfache Trick hilfreich sein, gelesene Fakten persönlich zu bewerten. Allein das Einteilen der Information in mehr oder weniger interessant bzw. glaubwürdig, kann Ihrem Gehirn vermitteln, dass Sie hier emotional beteiligt sind und dieser Inhalt daher wichtig ist.


So merk' ich's mir - Tipps zur Förderung der Merkfähigkeit

  • SPRACHE UND KOMMUNIKATION: In spannende Geschichten verpackt werden Inhalte im Kontext abgespeichert und sind daher leichter wieder zugänglich. Zudem hilft regelmäßiges Erzählen bei kausalem Denken.
  • ÄSTHETIK UND GESTALTUNG: Gesungenes und Gereimtes merkt man sich besonders leicht. Und: Je kreativer und vielfältiger Inhalte verarbeitet werden, desto leichter kann man sich an diese erinnern.
  • ETHIK UND GESELLSCHAFT: Inhalte aus persönlicher Sicht zu bewerten hilft, diese intensiv zu verarbeiten. "Was-wäre-wenn"-Szenarien regen zum Philosophieren und Fragenstellen an.
  • NATUR UND TECHNIK: Mit allen Sinnen zu "begreifen" führt zu einer besonders tiefen Speicherung. Zusammenhänge zu durchschauen und Vorgänge zu verstehen, erleichtert das Merken von Inhalten.
  • BEWEGUNG UND GESUNDHEIT: Bewegung aktiviert das Gehirn und regt vermutlich die Bildung neuer Synapsen an. Generell hilft Aktivität, Inhalte besser zu verknüpfen
  • EMOTIONEN UND SOZIALE BEZIEHUNGEN: Was mit Emotionen verknüpft ist, wird besonders tief verarbeitet. Jemandem etwas zu erklären hilft, es wirklich zu verstehen.

Lesen Sie den ganzen Artikel in der aktuellen Printausgabe UNSERE KINDER 4/2018 "Merk-würdig! Vom Erinnern und Vergessen"!

Bildnachweis: Eva Berger

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