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Erinnerung an (fast vergessene, aber) elementare Aufgaben

Die sozial-emotionale Entwicklung ist ein Fundament für alle weiteren Lernprozesse

 

UKI_5_2025_Artikel

Sowohl in der öffentlichen Debatte als auch im fachlichen Diskurs über frühkindliche Bildung dominieren häufig die sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten. Diese Perspektive, die Bildung in erster Linie als Vorbereitung auf die Anforderungen der Schule sieht, verkennt die entscheidenden Entwicklungsaufgaben der ersten sechs Lebensjahre. 

In dieser Phase sind Kinder intensiv mit emotionalen Themen und Beziehungskonflikten beschäftigt. Das ist eine „spannende” Zeit für alle Beteiligten – im wahrsten Sinn des Wortes, denn die Entwicklung von Autonomie, eines stabilen Selbstkonzepts und emotionaler Kompetenz ist zumeist konflikthaft. Kinder brauchen dafür Zeit und einen sicheren Raum, um sich erproben zu können. In der frühen Kindheit lernen sie, ihre eigenen Gefühle und die von anderen zu verstehen und zu regulieren. Konflikte werden in der Elementarpädagogik nicht als Störfaktor gesehen, sondern als wichtige Lerngelegenheit. Pädagog*innen begleiten Kinder feinfühlig, damit sie lernen, unterschiedliche Bedürfnisse wahrzunehmen, Kompromisse zu finden und Empathie zu entwickeln. Diese Fähigkeiten sind die Grundlage für soziale Interaktionen und das spätere psychische Wohlbefinden. 

Kognitive Förderung im Kontext 

Die Förderung von Sprache und Denken kommt dabei keineswegs zu kurz. Im Gegenteil: Die Themen, die Kinder interessieren und die dahinterliegenden Entwicklungsaufgaben sind der Nährboden, aus dem sich ihr sprachliches Handeln und Denken speist. Nach der Kommunikations-und Kindheitswissenschaftlerin Petra Best und der Psychologin Anne Zehnbauer (2009) entwickeln sich die sprachlich-kognitiven Fähigkeiten eines Kindes am besten, wenn sie in einem emotional sicheren und sozial stimulierenden Umfeld stattfinden.

Das Spiel als „Entwicklungshilfe“ 

Diese existenziellen Kindheitsthemen spiegeln sich unter anderem in lebendigen, wilden und oft archaischen Spielen wider. Das kindliche Interesse an starken und ungezähmten Tieren, Monstern, Piraten, Rittern, Polizist*innen oder König*innen ist kein Zufall, sondern Ausdruck der inneren Auseinandersetzung mit Konflikten, Ängsten und dem Erproben von Grenzen (Kapfer- Weixlbaumer, 2022). Das Spiel ist ein hochkomplexes, selbstgesteuertes Lernfeld. Es ermöglicht Kindern, Themen wie Macht und Ohnmacht, Gut und Böse oder Nähe und Distanz symbolisch zu verarbeiten, ohne reale Konsequenzen befürchten zu müssen. Diese spielerische Verarbeitung ist entscheidend für die Entwicklung von psychischer Stabilität und Resilienz. 

Emotionale Kompetenz als Grundlage für Schul- und Lebenserfolg 

Ein Kind, das von starken Ängsten oder ungelösten Konflikten belastet ist, kann seine kognitive Energie nicht auf das Erlernen von Buchstaben oder Zahlen lenken. Es ist daher nicht primär die kognitive, sondern vor allem die emotionale und soziale Kompetenz, die darüber entscheidet, ob ein Kind den komplexen Anforderungen der Schule gewachsen ist – wie dem Einhalten von Regeln, dem Zuhören, dem Kontrollieren eigener Impulse und der Kooperation mit Gleichaltrigen. Daher ist emotionale Kompetenz das Fundament, auf dem alle weiteren Lernprozesse aufbauen. Sie ist die unsichtbare Brücke, die die kindliche Entwicklung mit den kognitiven Anforderungen der Schule verbindet. 

Zudem ist die kognitive Entwicklung in der frühen Kindheit eng mit der motorischen Reife verknüpft. Feinmotorik, die für das Schreiben notwendig ist, baut auf der Grobmotorik und der sensorischen Integration auf: Grundlegende mathematische Konzepte wie das Erfassen von Raum und Zeit werden durch eigene Bewegungserfahrungen „begriffen“. Ein emotional sicheres Kind, das seinen Körper gut beherrscht, ist auch neurologisch besser darauf vorbereitet, abstrakte Konzepte zu erfassen. 

Emotionale Kompetenz ist die Fähigkeit, eigene Gefühle und die Gefühle anderer wahrzunehmen, zu verstehen, auszudrücken und zu steuern. Für Kinder bedeutet das, zu lernen, mit Frustration, Enttäuschung oder Wut umzugehen, aber auch Freude oder Stolz ausdrücken zu können. Diese Fähigkeiten sind eng mit der sozialen Kompetenz verknüpft, da sie die Interaktion mit anderen erst ermöglichen. Ein Kind, das sich seiner eigenen Emotionen bewusst ist und diese regulieren kann, ist besser in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen, Konflikte friedlich zu lösen und Freundschaften zu pflegen. 

Bindung als Basis: Die Grundlage für das Erlernen von Impulskontrolle sind stabile Beziehungen zu den Bezugspersonen. Eine sichere Bindung vermittelt dem Kind das Gefühl von Geborgenheit und Vertrauen. Es weiß, dass es bei seinen Bezugspersonen Trost und Unterstützung findet, wenn es emotional überfordert ist. Diese Erfahrung schafft die psychische Sicherheit, die notwendig ist, damit das Kind die Welt selbstständig erkunden und sich auf neue, potenziell stressige Situationen – wie den Schuleintritt – einlassen kann. Ohne diese innere Sicherheit bleiben die geistigen Kapazitäten des Kindes durch Ängste und Unsicherheiten gebunden. In der Schule zeigen sich die Auswirkungen emotionaler Reife in vielerlei Hinsicht: 

  • Lernbereitschaft und Aufmerksamkeit: Kinder, die ihre Emotionen gut regulieren können, sind weniger abgelenkt durch innere Unruhe oder Ängste. Sie können sich besser auf den Unterricht konzentrieren und dem Lehrstoff folgen. 
  • Impulskontrolle: Das Einhalten von Schulregeln, abwarten können, bis man aufgerufen wird oder das Aushalten von Frustrationen beim Lösen schwieriger Aufgaben erfordern eine gute Impulskontrolle. Diese Fähigkeit ist direkt an die emotionale Reife geknüpft. 
  • Kooperation und soziales Miteinander: Der Schulalltag verlangt ständige Interaktion mit Lehrkräften und Mitschüler* innen. Ein Kind mit guter emotionaler und sozialer Kompetenz kann sich leichter in Gruppen einfügen, kooperieren und Konflikte ohne Aggression lösen. 

Zusammenfassend lässt sich sagen: Emotionale Kompetenz, die aus der erfolgreichen Bewältigung zentraler Entwicklungsaufgaben in der frühen Kindheit entsteht, ist weit mehr als nur ein „Soft Skill”. Sie ist die entscheidende Voraussetzung für den Schulerfolg und ermöglicht es Kindern, ihr kognitives Potenzial auszuschöpfen. 

Die zentrale Rolle des Kindergartens 

Ein qualitativ hochwertiger Kindergarten leistet hier eine unverzichtbare „Entwicklungshilfe“. Er bietet einen geschützten Raum, in dem Kinder ihren Aktionsradius über die Familie hinaus erweitern und ihre Identität erproben können. Hier lernen sie, mit emotionalen Konflikten umzugehen, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren und Empathie zu entwickeln. 

Die Professionalität der Fachkräfte ist entscheidend. Ihre Aufgabe ist es, diese Lernprozesse bewusst wahrzunehmen und zu begleiten. Pädagogische Fachkräfte schaffen einen sicherheitsgebenden Rahmen, in dem Kinder sich trauen, Risiken einzugehen, zu scheitern und es erneut zu versuchen. Durch eine differenzierte Beobachtung erkennen Fachkräfte, welche Themen ein Kind oder eine Kindergruppe gerade beschäftigt und bieten die passenden Anregungen – sei es durch ein bestimmtes Spielmaterial, eine Geschichte, ein offenes Gespräch ... 

Die Elementarpädagogik darf ihre wesentlichen Aufgaben nicht aus den Augen verlieren. Pädagog*innen etwa sollten sich stärker auf die psychomotorische Entwicklung der Kinder konzentrieren und ihnen im freien, bewegten Spiel Raum geben, damit sie sich mit Emotionen und sozialen Beziehungen auseinandersetzen können. 

Beziehungsarbeit 

Pädagog*innen unterstützen Kinder feinfühlig auf ihrem konfliktbehafteten Weg der Autonomieentwicklung. Sie schaffen eine Umgebung, in der Kinder wachsen und Kompetenzen aufbauen können.

Die wahre Stärke der frühkindlichen Bildung liegt in der Ermöglichung einer ganzheitlichen Entwicklung, die den grundlegenden Bedürfnissen der Kinder gerecht wird. Dieses Wissen ist bei Pädagog*innen tief verankert – wir müssen es nur wieder laut und deutlich nach außen tragen.

 

 

Bildnachweis: UNSERE KINDER-Archiv

Prof.in Anna Kapfer-Weixlbaumer, MA

(Sonder-)Kindergartenpädagogin, 17 Jahre in oö. Kindergärten tätig, Studium Psychomotorik, mehrere Auslandsaufenthalte. Von 2013 bis zur Pensionierung 2023 UNSERE KINDER-Fachredakteurin in Linz. Weiterhin in Lehre und Fortbildung aktiv.

Mehr zu frühkindlich-pädagogischen Themen finden Sie in UNSERE KINDER - das Fachjournal mit gelungener Verbindung zwischen praxisnaher Theorie und fachlich fundierten Berichten aus der Elementarpädagogik!

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