Fantasie: Natürliche Begabung und Lernfeld
Zu sagen, Kinder seien besonders kreativ oder fantasievoll stimmt und stimmt auch nicht. Mit den folgenden Gedanken möchte ich zum Nachdenken anregen.
Vier Kinder sitzen am Hochstand im Garten ihrer Einrichtung und erzählen sich, was sie alles sehen können: „Ich seh' da unten viele Elefanten vorbeilaufen und dort Krokodile.“ „Und ich seh' einen Tigerpapa und eine Tigermama.“ „Und was siehst du, Jonas?“ „Viele Dinosaurier!“ „Das geht gar nicht, die sind schon urlange ausgestorben“, antwortet eines der Kinder. „Geht schon“, erwidert Jonas. „Im Kopf kann ich mir alles ausdenken. Auch was nicht in echt geht!“ Und damit hat Jonas kompakt das Wesen der Fantasie beschrieben, nämlich die Fähigkeit sich etwas vorzustellen, das in der Realität nicht existiert.
Was hat diese Kinder inspiriert?
Im Garten gibt es seit einigen Tagen das Spiel mit Seifenblasen als Angebot. Das Experimentieren mit unterschiedlichen Utensilien zum Blasen großer und kleiner Seifenblasen fand großen Anklang.
Das Gedicht „Als ich Seifenblasen blies, ist es mir gelungen“ von Georg Bydlinski verdichtet diese schillernden Erfahrungen in lyrischer Sprache. Es erzählt von einer Seifenblase, die nicht zerplatzte und in die weite Welt hinausflog. Das regte die Fantasie der Kinder an, sich vorzustellen, wohin die Seifenblase wohl fliegen und welche Abenteuer sie erleben könnte. Später sah ich die Kinder im Garten „wilde Tiere“ spielen. Beim Mittagessen erfuhr ich, dass sie verzauberte Seifenblasen waren, die im Urwald landeten und sich in Tiere verwandelten. Am Nachmittag hatten sie die Möglichkeit mit Farben und Papier ihren fantasievollen Vorstellungen Ausdruck zu verleihen.
Fantasie und Vorstellungsfähigkeit entwickeln sich auf Basis konkreter Erfahrungen mit den Gegebenheiten der Umwelt. Nur dann können Kinder sich die Welt auch anders denken.
Kreativität braucht Wissen und Fantasie
Nach Alison Gopnick, einer renommierten amerikanischen Entwicklungspsychologin, speist Wissen und Erfahrung die Fantasie und ist Voraussetzung für Kreativität. „Nur weil wir diese Welt kennen, können wir andere erschaffen“. Konkrete sinnliche Erfahrungen sind daher der Nährstoff für die Entwicklung von Fantasie und kreativem Denken. Kinder mit einem großen Erfahrungsrucksack fällt es leichter, ihre Erlebnisse in Fantasie und Spiel umzusetzen. Sie sind zumeist beliebte SpielpartnerInnen, weil ihre Ideenwelt reichhaltige Nahrung aus der realen Welt hat.
Inspirationsquelle sein für die Fantasie
Damit Kinder fantasievoll spielen, sich Geschichten ausdenken und Probleme lösen können, brauchen sie auch immer wieder Anregungen und Ideen von Erwachsenen. Also Erwachsene, die ihnen Fenster zur Welt öffnen und Inspirationsquelle sind. Denn wie soll ein Kind aus eigener Kraft seinen Stadtteil erkunden, erfahren, wie man mit verschiedenen Instrumenten Musik machen kann oder dass Ton ein vielseitiges Gestaltungsmaterial ist? Oder wie soll es wissen, wie man großformatig malen, Papier falten und Holz bearbeiten kann, wenn nicht Erwachsene oder erfahrene ältere Kinder diese Fenster öffnen? Das Bauen, Zeichnen, Malen, Plastizieren und alle Formen des Rollenspiels bieten Kindern eine Möglichkeit, das (in Projekten, Exkursionen, in erzählten Geschichten und anderen Medien) Erlebte, Gehörte, Gesehene, Gespürte … zu verarbeiten und darüber nachzudenken. So können sie ihre Vorstellungen, Gedanken, Gefühle und Fantasien zum Ausdruck bringen. Kindliche Gestaltungen können nach Gerd Schäfer als eine Form des „Über-etwas-Nachdenkens“ verstanden werden.
Wenn Kinder ausgehend von konkreten Erlebnissen sich etwas vorstellen, was nicht existiert, wenn sie Dinge und Geschichten erfinden und diese mittels Sprache, Bilder oder anderer Gestaltungen ausdrücken, trainieren sie die Fähigkeit, abstrakt zu denken und Probleme zu lösen. Fantasie und Imagination scheinen etwas typisch Menschliches zu sein. Sich mögliche und unmögliche Welten zu erschaffen und in Alternativen zu denken, finden wir sowohl in den frühkindlichen Symbol- und Rollenspielen als auch im künstlerischen und wissenschaftlichen Schaffen von Erwachsenen. Hier wird der enge Zusammenhang zwischen Fantasie, kreativem Denken und Sprache sichtbar. Oft genügen kleine Impulse, die die Vorstellungskraft und die Sprache der Kinder anregen und ihnen neue spannende Spielwelten eröffnen. Habt Mut, in die Fantasiewelten der Kinder einzutauchen und gleichsam ein Werkzeug für ihre Fantasie zu sein! Nur darauf zu vertrauen, dass Kinder von Natur aus fantasiebegabt sind, wäre pädagogischer Übermut.
Bildnachweis: Rosa Huber
Anna Kapfer-Weixlbaumer, MA
Jahrgang 1962. (Sonder-)Kindergartenpädagogin, 17 Jahre in oö. Kindergärten tätig, Studium Psychomotorik, mehrere Auslandsaufenthalte. Von 2013 bis 2023 UNSERE KINDER-Fachredakteurin in Linz. Lehr- und Fortbildungstätigkeit
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