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Großmutters Regelspiele

Vielfältige Mathematik in einfachen Spielen

 

Großmutters Regelspiele Mathematik Spiele spielerisch Domino Christina Ahrer-Hold

In vielen Situationen des Alltags können Kinder vor der Schule mathematische Kompetenzen erwerben – nebenbei und zumeist unerkannt. Ein Beispiel dafür sind Regelspiele wie „Mensch-ärgere-dich-nicht” oder „Uno“.

Ich bin Mutter zweier Kinder im Alter von fünf und neun Jahren und Lehrende für Mathematik-Didaktik an der Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz. Als Lehrende ist es mir wichtig, zukünftigen Primarstufenpädagoginnen und Primarstufenpädagogen die große Bedeutung vorschulischer Erfahrungen für späteres erfolgreiches schulisches Lernen bewusst zu machen.

Neben schulischen Ursachen können nämlich auch unzureichende Erfahrungen im Vorschulalter Probleme im Rechnen begründen (vgl. Wittmann, 2001). Auch in einer von den Psychologen Kristin Krajewski und Wolfgang Schneider im Jahr 2006 publizierten Langzeitstudie konnte bestätigt werden, dass es spezifische vorschulische mengen- und zahlbezogene Kompetenzen gibt, die für erfolgreiche schulische Mathematikleistungen von großer Bedeutung sind. Deshalb erscheint es in Hinblick auf die Anschlussfähigkeit sinnvoll, allen Vorschulkindern das notwendige Rüstzeug zu geben, um darauf im mathematischen Anfangsunterricht erfolgreich bauen zu können. Es geht aber nicht darum, schulische Inhalte und Methoden nach vorne zu verlegen, sondern das schulische Lernen durch spielerische Aktivitäten vorzubereiten.

Durch meine berufliche Beschäftigung mit den mathematischen Basisfertigkeiten bin ich auch im Alltag als Mutter sensibel für Situationen, in denen mathematisches Potenzial steckt. Vor allem beim Spielen von Regelspielen mit meinen Kindern ertappe ich mich selbst immer wieder dabei, das mathematische Potenzial des jeweiligen Spiels zu analysieren. In vielen Spielsituationen erkenne ich Momente, in denen ganz nebenbei und zumeist unerkannt mathematisches Wissen in die Köpfe der Kinder gelangt.

Würfelbilder verinnerlichen

Beim Brettspiel-Klassiker „Mensch-ärgere-dich- nicht“ werden beispielsweise durch das wiederholte Betrachten der erwürfelten Punkte zunehmend die sechs verschiedenen Würfelbilder verinnerlicht. Das geschieht vor allem dann, wenn erwachsene SpielbegleiterInnen zusätzlich die Struktur des Würfelbildes versprachlichen: „Bei vier sind an allen vier Ecken des Würfels Punkte, das Würfelbild von fünf sieht aus wie jenes von vier mit einem zusätzlichen Punkt in der Mitte.“

Somit wird im Laufe der Zeit das Erkennen des Würfelbildes auf einen Blick – und somit das sogenannte simultane Erfassen des Würfelbildes – ermöglicht. Ganz nebenbei erhalten die Kinder eine erste Einsicht in die sogenannte „Teil-Ganzes-Beziehung” von Zahlen: Fünf setzt sich aus anderen Zahlen zusammen – beispielsweise aus vier und eins. Diese Erkenntnis ist eine wichtige Voraussetzung für das spätere Addieren und Subtrahieren von Zahlen (vgl. Padberg/Benz, 2011).

Auch beim Verschieben des Kegels am Spielbrett entsprechend der gewürfelten Anzahl wird eine weitere wichtige mathematische Basiskompetenz geübt: Das Abzählen – in diesem Fall bis zur Zahl sechs – vielleicht sogar in Zweierschritten?

Sortieren nach Merkmalen

Ebenso werden beim Spielen des Kartenspiels „Uno“ unbewusst mathematische Inhalte trainiert. So müssen die Spielkarten – um sie auf den Stoß legen zu können – nach Farbe oder Ziffer klassifiziert werden: Auf einen roten Siebener darf entweder eine beliebige rote Karte, oder eine Siebenerkarte jeglicher Farbe gelegt werden. Das Sortieren von Dingen oder Bilden von Gruppen nach bestimmten Merkmalen (in diesem Fall Farbe oder Ziffer) stellt eine der zentralen pränumerischen Vorläuferfertigkeiten dar (vgl. Hoenisch/Niggemeyer, 2007).

Wenn beim Hinlegen der Ziffernkarten von einer erwachsenen Spielbegleitung auch der Name der jeweiligen Ziffer ausgesprochen wird, ist die Möglichkeit gegeben, dass das Kind im Laufe der Zeit die Zuordnung der Ziffernzeichen von 0 bis 9 mit ihrem jeweiligen Zahlwort verinnerlicht.

„Äpfelchen ernten”

Neben diesen allseits bekannten Klassikern der Kinderspiele gibt es noch zahlreiche weitere Spiele, die das Potenzial haben, in Kindern mathematische Einsichten hervorzurufen. Ein Beispiel ist das bei Ravensburger erschienene Spiel „Äpfelchen“: Bei diesem Spiel sollen die MitspielerInnen durch Drehen an einem Pfeil ein Symbol ermitteln, welches anzeigt, was zu tun ist. Wer beispielsweise ein Feld mit einer bestimmten Anzahl von eins bis vier Äpfeln ermittelt, darf entsprechend viele Äpfel vom eigenen kleinen Plastikbaum „pflücken“ und in einen Kübel geben. Ziel des Spiels ist es, trotz diverser Hindernisse als Erste oder Erster die zehn Äpfel des eigenen Apfelbäumchens in einen kleinen Kübel zu ernten.

Laut Verlag fördert dieses Spiel ein erstes Regelverständnis, erstes Zählen und auch die Wahrnehmung. Bei näherer Betrachtung aber birgt dieses Spiel bedeutend mehr mathematische Einsichten. Bindet man die Kinder schon in die Vorbereitung des Spieles ein, so verstecken sich bereits hier zahlreiche Anstöße für wichtige mathematische Denkprozesse. So sollen zunächst der Anzahl an SpielerInnen entsprechend viele Plastikbäume in die dafür vorgesehenen Aussparungen im Spielbrett gesteckt werden. Und schon ergibt sich eine erste mathematische Fragestellung: Wir brauchen für jede Mitspielerin und jeden Mitspieler einen Baum, also gleich viele Bäume wie MitspielerInnen. Die Bedeutung des Wortes „gleich viel“ wird somit handelnd erschlossen. Erst wenn die Kinder sicher und nachhaltig verstanden haben, was mit „gleich viel“ gemeint ist, können sie die Bedeutung von „mehr“ und „weniger“ nachvollziehen – laut dem Didaktiker Michael Gaidoschik unabdingbare Voraussetzung, um Zahlen hinreichend verstehen zu können.

Richtig zählen lernen

Nächster Schritt der Spielvorbereitung ist das Herauszählen von genau zehn aus einer Menge an Plastikäpfeln. Um die korrekte Anzahl an Äpfeln eruieren zu können, müssen Kinder nicht nur die Zahlwörter in der richtigen Reihenfolge aufsagen können, sondern auch das „Eindeutigkeitsprinzip“ einhalten. Dieses besagt, dass jedem zu zählenden Ding genau nur ein Zahlwort zugeordnet werden darf.

Haben Kinder dieses wichtige Zählprinzip nicht verstanden, so eilen die Zahlwörter den Zählobjekten voraus oder umgekehrt und die ermittelte Endzahl ist nicht korrekt (vgl. Hasemann/Gasteiger, 2014). Durch gezielte Fragestellungen wie: „Fang einmal von der anderen Seite zu zählen an – wie viele Äpfel sind es dann?“ kommen Kinder zur Erkenntnis, dass die Reihenfolge, in der die Objekte gezählt werden, für das Ergebnis nicht entscheidend ist. Dieses Zählprinzip ist selbst noch in manchen Schulkindern nicht nachhaltig gefestigt. Man kann es Kindern durch zahlreiche, unterschiedliche Zählanlässe und wie oben genannte Fragen bewusst machen.

Das anschließende Aufhängen der Äpfel auf den Baum ist aufgrund ihrer filigranen Erscheinung zusätzlich eine Herausforderung für die Feinmotorik und Auge-Hand-Koordination. Beide Fertigkeiten stellen zwar keine spezifischen mathematischen Vorläuferfertigkeiten dar, zählen jedoch zu den wichtigen allgemeinen schulischen Fertigkeiten.

Symbole richtig deuten

Sobald alle dieser vorbereitenden Maßnahmen getroffen wurden, kann das Spiel beginnen. Reihum wird durch Drehen des Pfeils jeweils ein Symbol ermittelt, welches interpretiert werden soll. So bedeutet ein Bild von zwei Äpfeln, dass genau diese Anzahl an Äpfeln vom Baum gepflückt und in den Eimer gegeben werden dürfen. Ein Symbol gibt also an, was zu tun ist. Auch die Mathematik steckt voller Symbole, die richtig interpretiert werden müssen. So bedeutet etwa das Pluszeichen, dass zu einer Menge eine andere Menge dazukommt. Die Ziffer Acht in Form von zwei übereinander gestellten Kreisen bedeutet im grundlegenden Sinn acht von „irgendetwas“ – also eine abstrakte Menge.

Simultanes Mengenerfassen

Eine numerische Kompetenz, welche durch dieses Spiel gefördert wird, ist das sogenannte simultane Anzahlerfassen. Schafft es das Kind, die Äpfel, welche jeweils auf einem Feld abgebildet sind, ohne zu zählen auf einen Blick zu erkennen, ist ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Zahlverständnis getan. Studien belegen, dass jene Schulkinder, die Probleme beim gleichzeitigen Erkennen von bis zu vier Dingen haben, in weiterer Folge gefährdet sind, eine ausgeprägte Rechenschwäche zu entwickeln.

Im Dialog Verständnis entwickeln

Scheinbar banale Familienspiele können also reichhaltige Lerngelegenheiten bieten – vor allem dann, wenn eine pädagogisch-didaktische Grundhaltung der Ko-Konstruktion verwirklicht wird. Das Ziel ist dabei, mit Kindern im Dialog, also durch sozialen Austausch, Verständnis zu entwickeln (vgl. Fthenakis, 2009). So können auch in Spielsituationen begleitende Gespräche und gezielte Fragestellungen dazu beitragen, über die durch die Spielregeln bestimmten Handlungen hinaus weitere Aktivitäten anzuregen – und somit zusätzliche Lernprozesse zu aktivieren.

Fragen wie: „Wer hat mehr Äpfel auf dem Baum – du oder ich? Und um wie viel eigentlich?“ regen einerseits zum Zählen, andererseits zum Anzahlvergleich an – wichtige Teilfähigkeiten, um Zahlen verstehen zu können (vgl. Schuler, 2013). In Anlehnung an die „Zone der nächsten Entwicklung“ des russischen Psychologen Lew S. Wygotsky ist es für eine optimale Entfaltung des mathematischen Potenzials weiters von großer Bedeutung, dass die Spiele gut auf die Vorkenntnisse der Kinder abgestimmt sind. Somit kann sich neues Wissen auf Basis bereits angeeigneter Kompetenzen aufbauen und die Entwicklung vielfältiger arithmetischer Basiskompetenzen kann angeregt bzw. genährt werden.

Lernpotenziale bewusst machen

Studien belegen, dass ausgewählte Spiele in Kindergarten und Schule zum Erwerb des Zahlbegriffs ähnlich erfolgreich sind wie inhaltlich gleicher Unterricht (vgl. Schuler, 2017). Deshalb stellt das Analysieren von frühen Regelspielen hinsichtlich ihres mathematischen Gehalts einen zentralen Inhalt meiner Lehrveranstaltungen dar. Angehende PrimarstufenpädagogInnen sollen mathematisch wertvolle Situationen erkennen und gegebenenfalls auch spontan aufgreifen können. Sie sollen später als Lehrperson in der Lage sein, anregende Spiel- und Lernsituationen zu verwirklichen. Es wäre auch wichtig, den Eltern bewusst zu machen, wie bedeutend die klassischen Brett- und Kartenspiele sind. Pädagogische Fachkräfte in den Kindergärten und Schulen könnten da einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung leisten. Es wäre beispielsweise möglich, mit den Eltern einen „Spieleabend“ zu veranstalten, bei dem gemeinsam das mathematische Potenzial der Spiele analysiert wird. Wenn dabei den Eltern die große Bedeutung des Spiels für viele schulische Kompetenzen bewusst gemacht werden kann, wäre ein wichtiger Schritt getan.

Bildnachweis: Christina Ahrer-Hold

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