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"Ich möchte dazugehören"

Plädoyer für eine Kultur des Miteinanders

Es ist eine Ur-Sehnsucht des Menschen, sich in einer Gruppe akzeptiert, respektiert und beheimatet zu fühlen. Demgegenüber stehen nicht selten (frühkindliche) Erfahrungen von Ausgrenzung und Zurückweisung. Deshalb ist es so bedeutsam, sich intensiv mit den mitmenschlichen Beziehungen zu beschäftigen (zB. mittels der Methode "Soziogramm") und mit Kindern samt ihren Herkunftsfamilien in einer "Kultur des Miteinanders" zu kommunizieren.

Martin Kranzl-Greinecker in UNSERE KINDER 3/2019

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Elementarpädagogische Fachkräfte bzw. Einrichtungen sind keineswegs frei vom Risiko, Ausgrenzungstendenzen (z. B. aus ethnischen, sprachlichen oder religiösen Gründen) und Vorurteilen zu erliegen. Vor allem das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte in vielen Ländern Europas führt auch in der Bildungs- und Erziehungslandschaft zum Wiedererwachen von Ungleichwertigkeitsbildern, Alltagsrassismus oder (manchmal gar nicht so ernst gemeinten) verbalen Verunglimpfungen von Kindern, Eltern oder KollegInnen, die nicht ins Schema passen.

Manchmal möchte man fragen, wie es möglich ist, dass allen Verpflichtungen, Gesetzen, Kinderrechtserklärungen, Absagen an die „schwarze Pädagogik“ sowie all den schrecklichen Erfahrungen von Krieg, Gewalt und Verfolgung zum Trotz nach wie vor Kinder in die sprichwörtliche Ecke gestellt werden. Dass „wenig pflegeleichte Kinder“ auch in österreichischen Kindergärten und Krippen angeblich, wie Medien zuletzt berichteten, an Hochstühle angebunden oder in Badezimmer eingesperrt würden. Dass Eltern gegen die Errichtung von Integrationsgruppen intervenieren (weil ihr Kind „wegen der Behinderten vernachlässigt werde“) oder dass Buben die Teilnahme an Tanzprojekten verwehrt wird, um nicht zu „verweichlichen“.

Die zuletzt genannten und eine Reihe weiterer Beispiele finden sich in der Broschüre „Für eine Kultur des Miteinanders“ des deutschen Verbands katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KAKITA, Nov. 2018).

Gesehen werden

Was macht es aus, dazuzugehören? Zu allererst geht es um die Gewissheit, wahrgenommen und gesehen zu werden. Werde ich beachtet oder bin ich für meine Umgebung Luft? Immer wieder erliegen auch PädagogInnen der Gefahr, Kinder – vor allem unscheinbare, leise oder unauffällige – zu übersehen. Man wendet sich oft intuitiv eher den lauten und impulsiven Gruppenmitgliedern zu, während die MitläuferInnen eben eher „mitlaufen“. Gerade deshalb ist die bewusste Anfertigung eines Gruppensoziogramms bedeutsam, denn hier wird jedes Kind mit seinen Herkunftsmerkmalen individuell betrachtet bzw. beschrieben.

Dabei ist natürlich Vorsicht geboten, denn: Wie schnell kann aus einer Be-Schreibung eine Zu- Schreibung und damit eine Schubladisierung werden? Grundlage jeden (nicht nur pädagogischen) zwischenmenschlichen Umgangs ist und bleibt der 1. Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Es gibt keinen Grund und keine Erklärung dafür, jemandem Nestwärme und Geborgenheit vorzuenthalten – sofern er oder sie sich nicht selbst freiwillig (für eine gewisse Zeit) aus einer sozialen Gemeinschaft ausschließt.

Mitreden und Ausreden

Die primäre Form sozialer Interaktion ist die zwischenmenschliche Kommunikation. Auch in Zeiten zunehmender Onlinekontakte, z. B. via Social Media, und nahezu allumfassender Digitalisierung bleiben die klassischen Gesprächsregeln und -techniken unverzichtbar. Jedes Kind kommt zu Wort, jeder Mensch hat das Recht auf eine eigene Meinung, niemand darf darum sterben. Wer anderen den Mund verbietet, läuft in letzter Konsequenz Gefahr, ihnen das Existenzrecht abzusprechen.

Das Rederecht zuzugestehen, bedeutet nicht, dass am Ende nur ein und der-/dieselbe spricht. Im Gegenteil: Das Recht des Mitredens gilt für alle und ist Ausdruck gleichberechtigten Dazugehörens. Das darf vielsprechenden Zeitgenossen auch mitgeteilt werden!

Gerade Kinder, vielleicht sogar solche, die noch mitten im Spracherwerb stehen, benötigen das Erfolgserlebnis, sich vollends auszudrücken. Nicht zu unterbrechen und den anderen zu Ende sprechen lassen, ist nicht nur ein Gebot der Höflichkeit, sondern eine Grundhaltung des respektvollen Miteinanders.

Ich höre dir zu …

Vom großen deutschen Philosophen und Ethiker Immanuel Kant (1724–1804) ist ein Satz überliefert, der primär im Zusammenhang mit Schwerhörigkeit zitiert wird: „Nicht zu sehen trennt von den Dingen, nicht zu hören trennt von den Menschen.“ Der Satz bleibt richtig, vielleicht wird er sogar noch richtiger, wenn wir statt „hören“ das Wort „zuhören“ verwenden. Erst wenn ich dir mein Ohr leihe, wenn deine Botschaft ankommen kann, macht das Recht auf freie Rede Sinn und Spaß. Schließlich will niemand in die Leere hineinsprechen, es geht stets um Dialog. Wie sich das Leben ganz allgemein im Geben und Nehmen ereignet, so ist es auch im Gespräch zwischen bzw. mit Kindern. Lernen und lehren wir, achtsam miteinander umzugehen und aufeinander zu hören – bis hinein in die feinen Zwischentöne.

Wenn heute vielfach (verbale) Gewalt und (sprachliche) Verrohung beklagt werden, dann können wir solchen negativen Entwicklungen Einhalt gebieten, indem wir bewusst jenen unser Ohr leihen, deren Stimme oft ungehört bleibt: den Schwachen, den Armen oder Armutsgefährdeten, den Erfolglosen, den Neuen, den Fremden, denen am Rand der Gesellschaft … Wenn Nicht-Hören Menschen voneinander trennt, dann bewirkt Zu-Hören das Gegenteil: Ich fühle mich angenommen, gehört und bin Teil des großen Ganzen.

Bildnachweis: rawpixel.com/shutterstock.com

Die Reckahner Reflexionen

… beruhen auf einer jahrelangen Auseinandersetzung mit dem Thema „Ethik pädagogischer Beziehungen“, die seit 2011 im kleinen ostdeutschen Ort Reckahn stattfindet. Internationale Fachleute aus Praxis, Leitung, Verwaltung, Wissenschaft, Bildungspolitik und Stiftungen beteiligen sich daran und haben die folgenden ethischen Leitlinien formuliert:

  • Kinder werden wertschätzend angesprochen und behandelt.
  • Pädagogische Fachkräfte hören Kindern und Jugendlichen zu.
  • Bei Rückmeldungen zum Lernen wird das Erreichte benannt. Auf dieser Basis werden neue Lernschritte und förderliche Unterstützung besprochen.
  • Bei Rückmeldungen zum Verhalten werden bereits gelingende Verhaltensweisen benannt. Schritte zur guten Weiterentwicklung werden vereinbart. Die dauerhafte Zugehörigkeit aller zur Gemeinschaft wird gestärkt.
  • Pädagogische Fachkräfte achten auf lnteressen, Freuden, Bedürfnisse, Nöte, Schmerzen und Kummer der Kinder. Sie berücksichtigen ihre Belange und den subjektiven Sinn ihres Verhaltens.
  • Kinder werden zu Selbstachtung und Anerkennung anderer angeleitet.

Ethisch unzulässig ist, dass pädagogische Fachkräfte Kinder diskriminierend, respektlos, demütigend, übergriffig oder unhöflich behandeln; Produkte und Leistungen von Kindern entwertend und entmutigend kommentieren; auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen herabsetzend, überwältigend oder ausgrenzend reagieren; verbale, tätliche oder mediale Verletzungen zwischen Kindern ignorieren.

Nähere Infos und Download: http://paedagogische-beziehungen.eu

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