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Kinder feinfühlig im Alltag begleiten

... ist mehr als nur auf sie einzugehen

Gerhild Damm in UNSERE KINDER 3/2015

In diesem Artikel geht es auf Tuchfühlung mit der Feinfühligkeit, einem in der pädagogischen Theorie und Praxis oft verwendeten Begriff. Feinfühligkeit wird in der Wissenschaft (insbesonders in der Bindungstheorie) klar definiert, auch ähnliche Beschreibungen wie "Einfühlsamkeit, Achtsamkeit oder Responsivität" nähern sich dieser besonderen Interaktionsqualität. Dieser Artikel bezieht sich vorwiegend auf die Definition der US-amerikanischen Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth (1913-1999), die Feinfühligkeit als das "wichtigste Merkmal elterlichen Pflege- und Fürsorgeverhaltens" beschrieb. In ihrem Konzept (1974) beschrieb Ainsworth die Feinfühligkeit als "Wahrnehmung und richtige Interpretation der kindlichen Signale und die angemessene und prompte Reaktion darauf". Von Feinfühligkeit wird im Alltag oft (recht lapidar und inflationär) gesprochen, sie ist jedoch mehr als nur spontanes, intuitives Eingehen auf das Kind. Aufgrund ihrer Komplexität braucht es die beständige Bereitschaft der Fachperson, ihre Wahrnehmung, Interpretation und ihr Handeln zu reflektieren, ggf. zu verändern und die eigene Kommunikation zu hinterfragen.

3/2015

Feinfühligkeit - das ist eine sehr wichtige und wohltuende Nachricht - kann gelernt und in ihrer Qualität gesteigert werden. Dies zeigen nicht nur Alltagsbeispiele aus Kindertages- und Ausbildungseinrichtungen, sondern auch verschiedene Studienergebnisse zu sog. "Feinfühligkeitstrainings" mit Müttern (van den Boom, 1994, zit. n. Grossmann, 2004). Die Aufgabe von pädagogischen Fachkräften, in einen feinfühligen Austausch mit dem Kind zu kommen, stellt häufig eine große Herausforderung dar, weil sich vielfältige Hindernisse und Schwierigkeiten offenbaren. Äußere Faktoren (z.B. schwierige Rahmenbedingungen, hohe Kinderzahl in Kindertageseinrichtungen, wenig Personal) und innere Einflüsse (z.B. fehlendes Fachwissen, emotionale Probleme, negative Bindungserfahrungen, rigide Erziehungsvorstellungen) können bei Fachpersonen zu Erschöpfung, Resignation, Zeitdruck, Ablenkung, Frustration und mangelnder Feinfühligkeit führen (Remsperger, 2008). Wie also trotz schwieriger und schwer beeinflussbarer Faktoren ausreichend feinfühlig sein? Dazu ist es hilfreich, sich auf veränderbare Faktoren zu besinnen, die alltäglichen Begegnungen mit Kindern zu reflektieren und sich auf die wohlwollende Beobachtung einzelner Kinder zu fokussieren (siehe dazu: "Reflexions-Fragen in der Begegnung mit einem Kind").

Bindungstheoretischer Hintergrund: Der Begriff der Feinfühligkeit entstammt der von John Bowlby (1907-1990) begründeten Bindungstheorie, die sich vor allem mit der enormen Bedeutung von Bindungsbeziehungen für die Entwicklung des Kindes befasst. Die Bindungstheorie hat insbesondere zwei Grundbedürfnisse des Kindes in den Fokus gerückt. Zum einen das Bedürfnis nach Nähe, Sicherheit, Liebe und Geborgenheit (Bindung) und zum anderen das Bedürfnis nach Kompetenz, Autonomie und Erkundung (Exploration). Die Bindungsperson ist die sichere Basis, die "Tankstelle", bei der das Kind in emotional belastenden Situationen sein inneres Gleichgewicht wieder finden und "auftanken" kann, um erneut zur Erkundung der Umwelt aufzubrechen. Eine feinfühlige Bindungsperson schafft es, emotionale Basisstation für das Kind zu sein, um einerseits Trost und Kontakt und andererseits Ermutigung und Anregung zu geben. Die Notwendigkeit und Intensität der sicheren Basis ist abhängig von der individuellen Situation, dem Alter und dem Entwicklungsstand des Kindes, bleibt jedoch über die gesamte Lebensspanne wichtig. Die sichere Basis hat die anspruchsvolle Aufgabe, zur Verfügung zu stehen, zu unterstützen, zu ermutigen, Gefühle zu regulieren, vielleicht zu helfen, wenn es gewünscht wird, aber nur dann einzugreifen, wenn es wirklich nötig ist.

Schritte der Feinfühligkeit (nach Mary Ainsworth):

1) Wahrnehmung: Die körperliche Verfügbarkeit und emotionale Zugewandtheit der Bindungsperson ist die notwendige Voraussetzung für die Wahrnehmung der kindlichen Signale und Initiativen. Ein sehr feinfühliger Mensch kann auch subtile und nonverbale Signale des Kindes erkennen und erspüren. Die Wahrnehmung ist immer auch subjektiv, was und wie wir etwas durch "unsere Brille" sehen, wird von der Situation, unseren Vorstellungen und Erfahrungen beeinflusst.

Praxis-Beispiel: Eine Fachkraft sitzt in der Nähe der Kinder und beobachtet folgendes: "Ein Junge (Moritz) sitzt am Tisch und wirft den Baustein, mit dem er gerade gespielt hat, kraftvoll auf den Boden und schaut diesem hinterher."

2) Interpretation: Nachdem die Bindungsperson ein Signal des Kindes wahrgenommen hat, erfolgt ist blitzschnell dessen Deutung und Interpretation. Der/Die Erwachsene versucht zu verstehen und sucht nach Erklärungen, was das Kind mit seinem Verhalten mitteilen möchte. Die richtige Interpretation der kindlichen Äußerungen sollte dabei nicht durch eigene Bedürfnisse und Wünsche verzerrt sein; es braucht also gutes Einfühlungsvermögen, um möglichst aus der Sicht des Kindes zu handeln. Die Interpretation ist von vielfältigen Faktoren beeinflusst, etwa von Erziehungsvorstellungen, entwicklungspsychologischem Wissen, kulturellen Bezügen, der aktuellen emotionalen Befindlichkeit, eigenen Beziehungen und Lebenseinstellungen.

Praxis-Beispiel: Das Werfen des Bausteins kann von der Fachkraft unterschiedlich verstanden werden. Einige Interpretationsmöglichkeiten könnten sein: Explorationslust und Neugier ("Ich will wissen, was passiert, wenn ich Dinge runter werfe"), Frustration ("Ich bin wütend, weil ich an meine Grenzen als Baumeister gerate"), Aufmerksamkeitsgewinnung ("Ich will, dass du mich siehst und mit mir in Kontakt trittst"), Müdigkeit ("Ich kann den Baustein nicht mehr halten, weil ich so erschöpft bin"), Aggression ("Ich will den Baustein kaputt machen, weil ich überfordert bin"), Begeisterung ("Ich freue mich, weil ich eine Herausforderung geschafft habe") ...

3) Angemessene und prompte Reaktionen setzen: Eine Reaktion ist dann angemessen, wenn sie zum Signal des Kindes "passt", also seinem Bedürfnis und seinem Verhalten angepasst ist. Beispielsweise wäre es angemessen, ein Kind bei Angst und Unsicherheit ernst zu nehmen, es zu beruhigen (durch Mimik, Sprache, Tonfall, Körperkontakt ...) sowie Gefühle und Bedürfnisse auszusprechen. Unangemessen wäre es hingegen, das Kind durch das eigene Verhalten noch mehr zu ängstigen, die Angst zu bagatellisieren, zu ignorieren oder zu negieren. Feinfühlige Bezugspersonen helfen dem Kind, sein Verhalten und seine Gefühle zu regulieren bzw. zu ordnen. Dadurch lernt es die Bedeutung seiner Emotionen in bestimmten Situationen kennen und erfährt, wie es damit sozial angemessen umgehen kann. Durch die Angemessenheit der Reaktion auf seine Signale lernt das Kind, seine Signale differenziert einzusetzen. Eine geeignete Reaktion verändert sich deshalb mit der Entwicklung des Kindes und soll stets gut strukturiert (mit einem für das Kind erkennbaren Anfang und Ende) sein. Die prompte Reaktion der Bindungsperson ist wichtig, damit das Kind eine Verbindung zwischen seinem Verhalten (z. B. Weinen) und der Handlung der Bindungsperson (z. B. Trösten, Füttern) herstellen kann. So erlebt es sich selbstwirksam, effektiv und kompetent. Beim Kind bildet sich eine positive Erwartung in Bezug auf sein Bild von sich: "Ich bin wertvoll, weil ich eine Antwort bekomme, die ich verstehe und die mir gut tut!" und bezogen auf das Modell vom anderen: "Meine Mama ist ein liebevoller Mensch".

Praxis-Beispiel: Abhängig von der Interpretation, die die Fachkraft für das Wegwerfen des Bausteins findet, wird sie entsprechend mehr oder weniger angemessen handeln. Wenn sie das Verhalten des Kindes beispielsweise als aggressiv und negativ bewertet, wird sie vielleicht mit Grenzsetzung und Ablehnung reagieren. Wenn sie das Wegwerfen als etwas Freudiges und Positives bewertet, wird sie das Kind vermutlich bestätigen und anerkennen.

Je feinfühliger eine Bindungsperson ist, desto eher entwickelt das Kind eine sichere und stabile Bindung zu ihr. Und eine sichere Bindung zu einer verlässlich und liebevoll zugewandten erwachsenen Person ist wiederum ein wichtiger Schutzfaktor für das ganze Leben eines Menschen. "Die Erfahrungen einer sicheren Basis werden zum Kern des eigenen Selbst. Ein bindungssicherer Hintergrund führt zu erhöhter Autonomie, ein unsicherer Bindungshintergrund zu vermehrter Abhängigkeit. Es ist schon bezeichnend, dass gerade aus der Angst heraus, Kinder zu verwöhnen, der Grundstock für spätere Abhängigkeiten geschaffen wird. Einfühlsames Eingehen auf die Kinder führt zu größerer Autonomie und keineswegs dazu, dass diese Kinder später am Rockzipfel der Eltern hängen, wie es lange Zeit nicht nur von Eltern, sondern auch von manchen Praktikern behauptet wurde." (Suess, 2001)

Heraus-, nicht überfordern! Verwöhnung und Überbehütung sind unbedingt zu unterscheiden von der Feinfühligkeit. Verwöhnung ist nicht an der Entwicklung, an den kindlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen orientiert, sondern verzichtet auf wohlwollende Herausforderungen. Dadurch wird die Entwicklung von Ausdauer, Eigenständigkeit und Selbstverantwortung verhindert. Verwöhnung macht Kinder unselbständig sowie von emotionaler und materieller Anerkennung abhängig, Feinfühligkeit hingegen schafft emotionale Sicherheit, welche die Voraussetzung für freudvolle und selbständige Exploration ist. Eine feinfühlige Bezugsperson fordert das Kind situations- und entwicklungsangemessen heraus. Feinfühlig zu sein, bedeutet ja nicht: "Ich lese dir jeden Wunsch von den Augen ab und erfülle alle deine Wünsche", sondern es heißt vielmehr: "Ich bin da für dich, versuche, deine Bedürfnisse zu erkennen und sie zu befriedigen. Aber bitte schaue, was du bereits selber dazu beitragen kannst". Die Angemessenheit ist manchmal schwer einzuschätzen, denn sie richtet sich nach dem Alter, der Situation, dem Temperament und der Entwicklung des Kindes etc. und muss daher immer wieder neu reflektiert bzw. angepasst werden. Nur dann werden wir Kinder weder über- noch unterfordern. Deshalb gibt es (glücklicherweise!) auch keine andauernde, perfekte Feinfühligkeit, allerdings besteht stets die Möglichkeit zur Verbesserung der eigenen Interaktionskompetenz. Erst das Zusammenspiel vieler Aspekte (Remsperger, 2008) führt dazu, Kindern einfühlsam und freudvoll zu begegnen.

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