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Wie ich lernte, mich auf die Lernprozesse der Kinder einzulassen

Auf dem Weg zur pädagogischen Haltung

 

UKI_5_2022_Artikel

"Auf die Haltung kommt es an“, ist oft zu hören. Wo findet man diese Haltung? Gibt es eine einzige richtige Haltung? Und was gibt in der Praxis Halt? Diese Fragen haben mich in den letzten Jahren in meiner pädagogischen Arbeit beschäftigt und so habe ich mich auf eine Reise zu mir und meiner inneren Haltung begeben. Im Folgenden möchte ich über meinen Weg berichten.

Vor gut sieben Jahren war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich mir nicht mehr sicher war, ob ich als Pädagogin im Kindergarten bleiben möchte. Ohne genau zu wissen, wonach ich suche, empfand ich Verunsicherung und spürte, dass ich mit meiner Arbeit nicht mehr glücklich war. Und dann wurde ich während meiner Karenzzeit zufällig auf ein berufsbegleitendes Studium an der Pädagogischen Hochschule OÖ aufmerksam. Wie es oft im Leben ist, sind es kleine Entscheidungen, die großen Einfluss auf alles Weitere haben können und so war es auch bei mir. Im Zuge des Studiums konnte ich mich nicht nur selbstreflexiv mit mir und meiner Biografie auseinandersetzen, sondern ich kam auch in den Austausch mit wunderbaren KollegInnen. Alle Vorlesungen, Seminare und Übungen waren spannend und die Inhalte waren vielfach Neuland für mich, lag doch meine Schulzeit schon einige Jahre zurück.

Alltägliche Herausforderungen

Mit einem fertigen Reiseplan im Gepäck und voller Tatendrang, wollte ich beim Wiedereinstieg in den Kindergarten am Liebsten alles auf einmal umsetzen. Schnell stieß ich dabei jedoch an meine Grenzen. Ich musste erkennen und mir eingestehen, dass der Transfer von der Theorie in die Praxis nicht innerhalb weniger Tage oder Wochen gelingt. Häufig sind es ja zu hohe Erwartungen an die eigene Person, die einen schlichtweg überfordern können. Geduld mit mir selbst zu haben, war zu dieser Zeit definitiv keine meiner Stärken und alles ging mir viel zu langsam. Dass aber gut Ding Weile braucht, wie die Redewendung lautet, war eine der ersten Erfahrungen, die ich machen durfte. Schon nach wenigen Arbeitstagen stellte ich fest, dass ich Altes weglassen muss, wenn etwas Neues Platz haben soll. Mit dieser Erkenntnis begann ich, meine pädagogischen Gewohnheiten zu hinterfragen. Bei vielen Dingen, die ich seit jeher gleich gemacht hatte, fragte ich mich zuerst selbst: „Warum mache ich das jetzt so? Ist es in diesem Moment wichtig für die Gruppe und meine Arbeit mit den Kindern?“ Häufig konnte ich diese Fragen mit einem klaren Nein beantworten.

Nach und nach strukturierte ich unseren Kindergartenalltag um ohne die Bedürfnisse der Kinder dabei aus den Augen zu verlieren. Dabei bemerkte ich, dass sich nicht nur meine innere Haltung, sondern auch mein Bild vom Kind Stück für Stück veränderte. Ich begann den Kindern mehr zuzutrauen und gab ihnen so auch mehr Raum für ihr selbstbestimmtes Handeln. Jede innere Veränderung zog eine äußere Veränderung nach sich. Beispielsweise stellte sich für mich die Frage: „Müssen wir uns jeden Tag um 9 Uhr im Morgenkreis zusammensetzen oder können wir uns auch zu einem späteren Zeitpunkt treffen? Müssen alle Kinder dabei sein oder kann ich jene Kinder weiterspielen lassen, die gerade ins Spiel vertieft sind?“ Aus diesen Überlegungen entwickelte sich unser „Gemeinschaftskreis“, den manche Kinder von sich aus einforderten und aktiv mitgestalteten, indem sie ihre Ideen einbrachten.

An Veränderungen mit Bedacht herangehen

Jede Veränderung von gewohnten Abläufen hat auch mit Verunsicherung zu tun. Feste Strukturen geben ja nicht nur den Kindern Halt, sondern dienen auch uns Erwachsenen als Wegweiser. Daher sollte Altbewährtes nicht einfach über Bord geworfen werden, sondern der Prozess soll allen Beteiligten genug Zeit geben, sich auf eine neue Situation einzustellen. Gelegentlich bedarf es auf einer Reise, abhängig von den äußeren Umständen, auch der Bereitschaft zu Planänderungen, vor allem wenn man nicht allein unterwegs ist. Die Absprache und Abstimmung mit den Mitreisenden – in meinem Fall mit den Kindern und dem Team – hat daher einen großen Stellenwert. Von Anfang an sollten alle in die Reiseplanung miteinbezogen sein, um nicht auf die Bedürfnisse Einzelner zu vergessen.

Um die kleinen und großen Herausforderungen des Alltags zu meistern, gilt es Situationen auszuhalten und Neues zuzulassen, wie auch an einigen Praxisbeispielen gut deutlich wird:

Praxisbeispiel „Wir siedeln“

Es war in der zweiten Kindergartenwoche im Herbst, als die Kinder im Rollenspiel die Idee hatten, ihre Wohnung umzubauen. Häufig werden Ereignisse aus der eigenen Lebensumwelt nachgespielt und auch gab es den Hintergrund, dass am elterlichen Bauernhof eines Mädchens gerade ein Zubau erfolgte. Die Kinder begannen eifrig die einzelnen Möbel aus der Küche herumzuschieben, der Teppich wurde zusammengerollt und die Regale umgestellt. Dabei mussten sie immer wieder Absprachen in der Gruppe treffen und Kompromisse finden.

Das Spiel zog sich über mehrere Tage, weil immer wieder neu umgebaut und übersiedelt wurde. Ich war dabei in der Rolle der Beobachterin und verfolgte das Geschehen von außen. Sicher wäre das Rollenspiel nicht so intensiv gewesen, wenn ich die Kinder bei jeder Idee gebremst hätte, obwohl es anfangs für mich als Pädagogin keineswegs einfach war, die Situation zuzulassen und auszuhalten. Einerseits hatte ich den Kindern manches nicht recht zugetraut und andererseits hatte ich unreflektiert gewisse bestehende Regeln übernommen.

Praxisbeispiel „Kuchen backen“

Noch ein Beispiel dafür, wie sich ein Spiel weiterentwickeln kann, wenn Erwachsene das Spielgeschehen zulassen: Mehrere Kinder spielten gemeinsam bei der großen Wanne im Garten mit kinetischem Sand. Ein Kind hatte die Idee, einen Kuchen zu backen und holte dafür eine Gugelhupfform aus dem Wohn- und Familienspielbereich. Die Kinder waren begeistert, dass sich der neue Sand so gut formen lies und organisierten Bretter zum Herausstürzen. Als ein Bub dann nach Wollhandschuhen von den Verkleidungsmaterialien griff, war mein erster Impuls ihn abzustoppen und ihn zu bitten, die Handschuhe schnell zurückzubringen. Doch ich entschloss mich abzuwarten und zu beobachten. Nachdem er beide Handschuhe angezogen hatte, fragte ich ihn nach seinem weiteren Plan. Er erklärte mir, dass er seinen Gugelhupf nun ins Backrohr unter dem Tisch geben würde und die Handschuhe beim Herausholen nötig wären, um sich nicht am Blech zu verbrennen. Dies war eine vollkommen logische Antwort und dennoch wäre ich in der Situation nicht darauf gekommen!

In genau solchen Spielsituationen, in denen Kinder ihre Erfahrungen und Eindrücke aus der Lebenswelt nachspielen, müssen wir sie ernst nehmen, um ihre Sichtweise zu verstehen. Denn wie der deutsche Erziehungswissenschafter Gerd Schäfer im Buch „Was ist frühkindliche Bildung?“ (Beltz-Verlag, Weinheim 2014) formulierte, brauchen Kinder für frühkindliche Lernprozesse keinen Unterricht, sondern „Erwachsene, die ihnen den Raum und jenen sozialen Widerhall geben, den sie für die ersten Abenteuer ihrer Welterforschung benötigen.“

Route wird neu berechnet

„Wie weiß ich, dass ich nun am richtigen Weg bin?“, werden sich viele fragen. In der Lebenswelt Kindergarten sind die Kinder unser bestes Navi. An ihrem Verhalten können wir sehr viel ablesen. Sie sind die ersten, die kleine Veränderungen wahrnehmen und durch ihr Verhalten Feedback geben. Wichtig ist dabei, sich immer wieder zu fragen: „Stimmt unsere Richtung oder sind wir vom Weg abgekommen?“

Zu selbstreflexiven Auseinandersetzungen sind die Reflexionsfragen aus dem Buch „Haltung sichtbar machen“ von Irmgard Kober-Murg und Birgit Parz-Kovacic (Verlag UNSERE KINDER, 2019) empfehlenswert. Fragen wie „Inwieweit gelingt es mir, mich auf die individuellen Lernprozesse der Kinder einzulassen?“ oder „Wie oft unterbreche ich das konzentrierte Spiel der Kinder zugunsten anderer Aktivitäten?“ können nicht nur als Anlass für die Reflexion der eigenen pädagogischen Arbeit genommen werden, sondern eignen sich auch für Teambesprechungen.

Wann bin ich auf meiner Reise eigentlich angekommen? Für mich persönlich habe ich erfahren, dass der Weg zur inneren Haltung ein stetiger Prozess ist. Es wäre zu einfach zu sagen, schon am Ziel zu sein. Ich glaube, dass es darum auch gar nicht geht. Vielmehr sollten wir den Mut haben, aufzubrechen und den ersten Schritt zu gehen, dem viele weitere folgen.

 

 

Bildnachweis: Oksana Kuzmina/shutterstock

Bettina Grüsser, BEd.

Jahrgang 1987. Elementarpädagogin mit Leitungserfahrung, Bachelorstudium Elementarpädagogik in Linz; dzt. Regionalleitung bei KiB3 (=Kirchl. Kinderbildungs- und Betreuungseinrichtungen) in Graz, Referentin in der Erwachsenenbildung und PH-Lehrbeauftragte.


 

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