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Trotz widriger Umstände den Alltag meistern

Lebensteilhabe von Kindern mit besonderen Bedürfnissen

Wer an "Kinder mit besonderen Bedürfnissen" denkt, sieht als erstes Kinder mit körperlicher und/oder kognitiver Beeinträchtigung vor sich. Aber auch Kinder mit schweren chronischen, mit lebensbegrenzenden und lebensbedrohlichen Erkrankungen sowie Kinder, die in einer Familie leben, in der ein Elternteil oder ein Geschwisterkind schwer und unheilbar erkrankt ist, haben besondere Bedürfnisse, genau wie ihre Familien.

 

Ulrike Pribil in UNSERE KINDER 6/2019

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Kindern fällt es schwer, die Begriffe „Gesundheit“ und „Krankheit“ zu definieren. In den wenigen vorliegenden Untersuchungen konnten 60 % der Kinder nicht erklären, was Gesundheit für sie heißt, durchschnittlich konnte ein Drittel der Kinder nicht erklären, was Krankheit für sie ist.

Etwas mehr als jedes zehnte fünfjährige Kind definiert Gesundheit als positive Befindlichkeit, also wenn es jemandem gut geht. Jedes fünfte sagt, es sei gesund, wenn es im Freien spielen kann, und fast jedes zehnte, wenn es den Kindergarten besuchen kann. Für fast ein Viertel ist Gesundheit das Fehlen von Krankheit.

Krankheit ist für die Kinder in der Regel: Schmerzen haben, Fieber, Übelkeit, sich schlecht fühlen, im Bett liegen, zum Arzt gehen und Medizin einnehmen müssen. Die Handlungskomponente ist ein wichtiger Aspekt – etwas nicht machen zu können, wie in den Kindergarten gehen, oder etwas machen müssen, wie im Bett liegen oder zum Arzt gehen.

So sagt der seit seiner Geburt schwer chronisch kranke Daniel (5) erst, als eine Therapie sein Immunsystem so schwächt, dass er nicht mehr in den Kindergarten gehen sollte: „Dann bin ich jetzt aber RICHTIG krank.“

Krankheit behandeln

Chronisch kranke Kinder entwickeln im Laufe ihrer Erkrankung eigene Vorstellungen über das, was in ihrem Körper geschieht. Im Kindergartenalter nehmen sie vor allem äußerliche Krankheitssymptome wahr. Wenn sie keine Anzeichen einer Erkrankung sehen oder spüren, wollen sie dafür auch keine Behandlung annehmen. Oft entwickeln sie auch Schuldgefühle, weil sie den Grund der Erkrankung auf konkrete Ereignisse, auf Handlungen von anderen Personen oder ihr eigenes Verhalten bzw. Fehlverhalten zurückführen.

Auch bei der Behandlung selbst unterscheiden die Kinder oft nach sichtbaren und spürbaren Wirkungen. Gut schmeckender Medizin wird eine bessere Wirkung zugeschrieben als schlecht schmeckender. Im Kindergartenalter betrachten Kinder alles sehr egozentrisch. Es ist für sie schwer, Ereignisse aus einer anderen Perspektive als der eigenen zu beschreiben, daher halten sie schmerzhafte Maßnahmen im Rahmen einer Therapie für nicht notwendig und nicht wirksam.

(Chronisch) kranke Kinder und ihre gesunden befreundeten Kinder müssen deshalb ihrem Alter und Entwicklungsstand entsprechend über die Krankheit aufgeklärt werden. Wie bedeutsam dabei die Sprache sein kann, zeigt ein Beispiel: Sarah war vier Jahre alt, als ihr Vater schwer und unheilbar an Krebs erkrankte. Sie war von Beginn an kindgerecht in viele Vorgänge eingebunden, die Diagnose „Krebs“ wurde jedoch nicht beim Namen genannt. Als die Geburtstags-Freundin Anna abgesagt wurde, weil diese einen grippalen Infekt hatte, fragte Sarah ihre Mutter: „Muss Anna jetzt auch sterben?“

Das lebensbedrohlich erkrankte Kind

Wenn Kinder in unserer hoch modernen fachmedizinischen Gesellschaft lebensbedrohlich erkranken, sind die Familien und ihr soziales Umfeld der größten Herausforderung gegenübergestellt. Neben den aktuellen Entwicklungsaufgaben müssen sie sich mit der Erkrankung, dem möglichen Sterben und dem nahenden Tod auseinandersetzen.

Diese Kinder brauchen ihrem Entwicklungsstand entsprechende Nähe, Geborgenheit und einen sicheren Raum. Die wahrhaftige, offene und altersentsprechende Kommunikation mit den Kindern und ihren Eltern stellt hohe Anforderungen an die Gesprächsführungskompetenzen aller Beteiligten. Es erfordert vor allem auch Mut, sich diesen Situationen zu stellen und sie nicht zu verdrängen, Betroffenen nicht auszuweichen.

Schweren, lebensbedrohlichen Erkrankungen wird insbesondere bei Kindern eine ausschließlich medizinische Betrachtungsweise nicht gerecht. Es ist immer die ganze Familie und das soziale Umfeld betroffen. Auch der Kindergarten und die Schule spielen in der Regel eine wichtige Rolle. Es braucht von allen Beteiligten ein hohes Maß an Sensibilität. Der Umgang mit der Erkrankung erfordert Rücksichtnahmen in vielen Bereichen, z. B. spezielle Hygienemaßnahmen, um auch einem Kind mit geschwächter Abwehr einen Kindergartenbesuch zu ermöglichen. Unter Umständen sind Änderungen im Tagesablauf notwendig: mehr Ruhephasen, ein Rückzugsort oder die Möglichkeit der ganz individuellen Nutzung der Einrichtung, vielleicht nur sporadisch und stundenweise, um den so wichtigen sozialen Kontakt, das Gefühl dazuzugehören, nicht ganz zu verlieren.

Nach erfolgreicher Therapie ist es in der Regel nicht möglich, zur Tagesordnung zurückzukehren. Das Leben hat sich für diese Familie ab dem Zeitpunkt der Diagnose grundlegend verändert. Gerade dann, wenn das Umfeld schon wieder eine Rückkehr zur Normalität erwartet, benötigt die Familie oft noch Unterstützung.

Wie Kinder Sterben und Tod sehen

Wenn Kinder selbst lebensbedrohlich erkrankt sind, wenn sie von Sterben, Tod und Trauer in ihrer Familie, in ihrer nächsten Umgebung betroffen sind, kann uns im Umgang mit diesen herausfordernden Situationen die Auseinandersetzung mit entwicklungsabhängigen Todeskonzepten hilfreich sein. Das Konzept bezeichnet Begriffe, Vorstellungen und Bilder, die einem Kind zur Beschreibung und Erklärung zur Verfügung stehen. Es beinhaltet kognitive Aspekte wie Wahrnehmung und Denken gleichermaßen wie die damit verbundenen Gefühle.

Die Entwicklung des Todeskonzeptes ist von unterschiedlichen äußeren und inneren psychischen Faktoren abhängig, und es gibt einen bedeutsamen Unterschied zwischen gesunden und erkrankten Kindern. Schwer kranke Kinder sind im Krankenhaus viel häufiger mit dem Sterben konfrontiert, sie machen dort selbst im Laufe ihrer Erkrankung mit vielen Untersuchungen und Behandlungen Erfahrungen, wodurch sie viel schneller Wissen um ihren eigenen nahenden Tod erwerben, als dies bei gesunden Kindern der Fall ist.

Außerdem werden Kinder auch durch Medien vermehrt mit Gewalt, Krieg oder Naturkatastrophen konfrontiert.

Kleinkinder bis dreieinhalb Jahre entwickeln ihr eigenes Selbstverständnis und Selbstbewusstsein und begreifen, dass sie unabhängig von ihrer Bezugsperson existieren können. Sie setzen den Tod mit Schlaf und Unbeweglichkeit gleich, die Endgültigkeit verstehen sie noch nicht. Sie können Belebtes von Unbelebtem unterscheiden und sammeln konkrete erste Erfahrungen, wenn z. B. ihr geliebtes Haustier stirbt.

Auf einen schweren (drohenden) Verlust können die Kinder mit Traurigkeit und Rückzug, aber auch mit Wut und Zorn reagieren. Erkranken sie selbst schwer, können sich die Fragen zum Thema Sterben und Tod häufen. Kinder in diesem Alter brauchen emotionale Zuwendung, Geborgenheit, Sicherheit und bestmögliche Stabilität in den alltäglichen Abläufen. Vertraute Rituale, Bilderbücher und Puppenspiele können wertvolle Unterstützung in diesen herausfordernden Zeiten bieten.

Ältere Kinder bis sechs Jahre leben in einer magischen Welt. Sie haben aufgrund ihrer kindlichen Ich-Bezogenheit die Vorstellung, dass alles möglich ist und ihre eigenen Wünsche in Erfüllung gehen. Durch diese Allmachts-Fantasien glauben sie, dass sie ihren eigenen sowie den Tod ihrer Bezugspersonen verhindern, aber auch verursachen können. Sie geben sich selbst die Schuld an ihrer schweren Erkrankung oder fühlen sich Schuld am Tod ihres Geschwisters, auf das sie vielleicht eifersüchtig waren, weil dieses viel mehr Zuwendung und Aufmerksamkeit als sie bekommen hat.

Lisa war fünf Jahre alt, als ihr großer Bruder nach mehreren Jahren intensiver Therapie an seiner Krebserkrankung starb. Lisa musste in dieser Zeit mit ihren Wünschen und Bedürfnissen fast immer zurückstecken, weil sich alles um ihren kranken Bruder drehte. Sie erzählte: „Manchmal dachte ich: ‚Wenn mein Bruder nicht wäre, wären Mama und Papa nicht so traurig und sie hätten viel mehr Zeit für mich. Wir könnten Ausflüge miteinander machen.‘ … Und jetzt habe ich keinen Bruder mehr.“

Trost finden im Kindergarten

In diesem Gefühlschaos brauchen Kinder offene AnsprechpartnerInnen, die ihnen versichern, dass sie nicht verantwortlich sind für ihr Leiden oder den Tod anderer. Der Einsatz von Bilderbüchern und Rollenspielen ist ebenfalls hilfreich. Oft spüren Kinder, dass sie ihre Eltern mit Fragen belasten, dass Eltern sehr traurig sind, und ziehen sich bewusst oder unbewusst zurück. Dann können gerade der Kindergarten und die vertrauten PädagogInnen wichtig für das Kind sein. Gemeinsam entwickelte Bilder der Hoffnung, die im (Geschichten-)Erzählen, im gemeinsamen Rollenspiel entstehen, können dem Kind helfen, eigene Vorstellungen von Trost aufzubauen.

Entlastung von Familien

Erkrankt ein Familienmitglied schwer, ist die ganze Familie emotional hoch betroffen und in ihrer Lebensgestaltung gefordert. Es ist schwierig, zu einem neuen Alltagsverständnis zu finden, Zeiten der Trauer und des Abschiednehmens zu bewältigen. Die Zeit, die das kranke Kind im Kindergarten verbringt, wird von Eltern auch sehr oft als große (zeitliche) Entlastung im Alltag erlebt. Es tut der ganzen Familie gut, zu wissen, dass das Kind gut integriert ist, Fürsorge, Rücksichtnahme und Förderung entsprechend seiner individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten erlebt.

Mütter erzählen uns oft, wie wichtig diese paar Stunden Zeit für sie sind, etwas in Ruhe erledigen zu können. Es ist wesentlich, sich einmal uneingeschränkt dem gesunden Geschwisterkind zu widmen. Und wir erleben immer wieder, wie schnell Betreuungssituationen eskalieren können, wenn vermehrt oder über einen längeren Zeitraum kein Kindergartenbesuch möglich ist und diese Entlastung wegfällt.

Das unbeschwerte Miteinander der Kinder in der Gruppe kann und darf auch Ablenkung vom manchmal sehr belastenden Alltag von Kindern sein, die ein schwer krankes Geschwisterkind haben, die gerade von einer nahen Bezugsperson Abschied nehmen oder um sie trauern.

Zu Hause fehlen dann oft Unbeschwertheit und Fröhlichkeit, das Kind-Sein kommt in der Regel viel zu kurz. Der Kindergarten kann hier ein Stück „Normalität“ bieten, „sorgen- und trauerfreier“ Raum sein.

Lebensteilhabe braucht Mut

Für die kranken Kinder und ihre Familien ist nichts schwerer zu ertragen als Kontaktvermeidung. Sie fühlen sich als Person, als Mensch abgelehnt und können meist nicht erkennen, dass der Grund dafür in der Unsicherheit der Mitmenschen liegt.

Auch im Kindergarten, als wichtiges soziales Umfeld der Familie, braucht es das Wissen über die Vorstellungen von Kindern über Gesundheit, Krankheit, Sterben, Tod und Trauer und die Auswirkungen auf das System Familie. In Verbindung mit einer hohen Sensibilität für die jeweils individuellen Bedürfnisse und einer offenen und von Wertschätzung geprägten Kommunikation können KindergartenpädagogInnen empathische Begleiter und Stütze für die betroffenen Familien sein. Solchen Situationen begegnen wir im täglichen Leben und somit auch im Kindergartenalltag – alltäglich sind sie für die meisten von uns aber trotzdem nicht.

Bildnachweis: New Africa/shutterstock.com

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