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Vielfalt und Potenzial der Sozialraumorientierung

 

UKI_5_2023_Artikel

Dieser Artikel möchte eine Inspirationsquelle sein und zur Öffnung von Kindergärten nach „außen” ermutigen. Vorgestellt werden Aktivitäten von „A wie Aktionsgemeinschaft” bis „Z wie Zusammentage”. Durch die Pandemie bedingte Beschränkungen führten in den letzten Jahren zu einer Unterbrechung des sozialraumorientierten Arbeitens. Nun aber sind eigenständige Weiterentwicklungen wieder möglich.

Das sozialraumorientierte Arbeiten hat eine lange Tradition. Sie geht unter anderem auch auf die Reggio-Pädagogik der 1970er-Jahre zurück (vgl. Jares, 2016). Der Reggio-Ansatz rückt das Kind in stetiger Interaktion mit seiner Lebens(um)welt und damit auch seinem Sozialraum ins Zentrum. Die beispielhafte Sammlung in diesem Artikel soll Lust machen, wieder anzuknüpfen und sozialraumorientiertes Arbeiten erneut zu initiieren, denn der gelungene Miteinbezug des Sozialraumes kann zur Steigerung der Qualität eines Kindergartens beitragen. Insbesondere dann, wenn Kinder sich partizipatorisch mit ihrer unmittelbaren Umwelt auseinanderzusetzen, um diese zu begreifen und vielfältige Interaktionserfahrungen zu machen, wird lebensweltliches Lernen ermöglicht.

Sozialräume als handlungsorientierte Räume begreifen

Sozialräume werden aus konstruktivistischer Perspektive durch das Handeln der AkteurInnen erzeugt und beeinflussen zugleich deren Interaktionen und Beziehungen. Die Lernerfahrungen eines Kindes werden nicht ausschließlich vom familiären Umfeld als Mikrosystem geprägt, sondern von weiteren Einflüssen wie dem Meso-, Makro- oder Exosystem. Die Einflussfaktoren wirken wechselseitig aufeinander ein. Sozialräume werden auch als Aneignungsraum beschrieben, der durch das aktive Handeln des Subjektes und sein Erschließen, Begreifen, Verändern und Umwandeln konstituiert wird. (Vgl. Schelle, 2020)

Bei der Gestaltung von (Sozial-)Räumen entfalten Kinder ihr kreatives Potenzial und erweitern ihre Kompetenzen, vertiefen die Offenheit gegenüber Neuem und werden so in ihrem Explorationsdrang unterstützt.

Partizipativ den Sozialraum erschließen

Schneider u. a. (2020) entwickelte ein Analyseinstrument, das beim Erfassen des Potenzials spezifischer Sozialräume unterstützt. Die AutorInnen unterscheiden insgesamt sieben Bausteine (A bis G), die zur Erschließung des Sozialraums Kindergarten gewählt werden können. Drei dieser Bausteine haben nicht nur analysierende, sondern integrierende und aktivierende Funktionen (vgl. Schneider et al., 2020), womit die Partizipation der beteiligten Fachkräfte, Erziehungsberechtigten und Kinder im Zentrum steht. Im Folgenden werden diese drei partizipativen Elemente näher beschrieben und mit konkreten Beispielen aus unterschiedlichen Kindergärten in Wien dargestellt, um engagierte sozialraumorientierte Arbeit zu veranschaulichen.

Perspektive der Fachkräfte

Baustein D widmet sich, insbesondere im Rahmen von Befragungen, der Sichtweise von Fachkräften. Darauf aufbauend kann neben gruppenübergreifenden Initiativen auch der Miteinbezug anderer Einrichtungen mit gleichen Interessensschwerpunkten angestrebt werden. Sozialraumentwicklung im Kindergarten ist keine One-Man-Show, sondern als Teamarbeit zu verstehen. Dafür werden Menschen benötigt, welche nicht nur im Kindergarten funktionieren, sondern eine Öffnung aller beteiligten Systeme einfordern und in einem Sozialraum ‚Wellen schlagen‘ (Schneider et al., 2020).

„Gemeinsam statt einsam”

stellte die Kooperation eines kleinen „Kindergärtengrätzls” im dritten Wiener Gemeindebezirk in den Fokus. Die verschiedenen Kindergartenteams organisierten standortübergreifende Sitzungen und definierten gemeinsame Interessen und Möglichkeiten. Vorab brachten die Teammitglieder ihre persönlichen Wünsche anhand von Leitfragen ein: Welcher Schwerpunkt soll bei der Vernetzung im Vordergrund stehen? Worüber möchten wir als Team mehr erfahren?

Eine pädagogische Fachberaterin moderierte die Teamsitzungen. Als Resultat führten die Fachkräfte kindergartenübergreifende kollegiale Hospitationen durch, um neue Ideen zu sammeln, Dynamiken kennenzulernen und Potenziale für sozialraumorientiertes Arbeiten zu erkennen. Auf Basis dieser Zusammenarbeit organisierten die Teams gemeinsame Theaterprogramme und Ausflüge wie einen Waldtag. Ziel war es, dass sich Kinder aus den verschiedenen Einrichtungen kennenlernten, was nach Pandemie-bedingter Isolation die soziale Entwicklung fördern sollte. Die Vorhaben ließen sich außerdem in größeren Dimensionen umsetzen, da nicht bloß ein Kindergarten die gesamte Planung und Durchführung übernehmen musste, sondern Aufgaben verteilt wurden.

Perspektive der Eltern

Baustein E stellt die Sichtweise der Eltern und Erziehungsberechtigten in den Fokus. Deren Wünsche werden auf unterschiedliche Art und Weise erhoben. So können vorhandene Ressourcen besser erkannt werden. Eltern entscheiden autonom, ob und bis zu welchem Grad sie involviert werden möchten. Elternbriefkästen können eine Möglichkeit sein, um Wünsche, Ideen und Projektanregungen in allen Sprachen zu artikulieren. Ausgehend von diesen Elternnachrichten kann ein Kinderparlament bestimmen, welche Vorhaben konkret umgesetzt werden. Auch Befragungen im Rahmen eines Elternabends können zur Mitbeteiligung beitragen. Durch diesen basisdemokratischen und partizipativen Zugang kann eine Vielzahl von sozialraumorientierten Ideen zustande kommen.

Ein Kindergarten im 3. Bezirk widmete sich dem Sozialraum, indem das Team eine Umfrage innerhalb der Elternschaft – genannt „Talentescheck“– startete. Inhalte waren beispielsweise:

Welche Ressource haben Sie in Bezug auf den Kindergarten? Welches Talent haben Sie? Wie könnten Sie sich in den Kindergartenalltag einbringen? Notieren Sie Ihre Ressource auf einem der Talenteschecks, die in den Garderobenbereichen aufliegen. Nach Abgabe des Zettels können wir die Details besprechen.

Um das Vorhaben noch konkreter zu veranschaulichen und die Erziehungsberechtigten zur Teilnahme zu motivieren, wurden Beispiele aufgelistet:

Sie haben einen „grünen Daumen“ und möchten bei der Garten-/Beetpflege mithelfen.

Sie sprechen Isländisch und möchten in dieser Sprache ein Bilderbuch vorlesen.

Sie sind Arzt/Ärztin, KrankenpflegerIn, SanitäterIn und möchten den Kindern Erste-Hilfe-Grundlagen näherbringen.

Die Rückmeldungen wurden eingesammelt und evaluiert. Die Kinder lernten auf diese Art Instrumente der Militärblasmusikkapelle kennen und schnupperten in den Arbeitsalltag eines Tierarztes im Tiergarten.

Die Aktionsgemeinschaft in einem Kindergarten des 22. Bezirks wollte den Kindern ihr Wohnumfeld mit relevanten Orten unter Beteiligung der Eltern erschließen. Die Kinder äußerten Interesse am angrenzenden Spital, demnach wollte das Team über dieses Einblicke in die Erwachsenenwelt geben. So beteiligte sich eine Mutter, indem sie bei einem Besuch im Kindergarten die Bestandteile ihres Arztkoffers und die Funktion der darin enthaltenen Instrumente erklärte. Auch ein Besuch der Geburtenstation unter Fachexpertise eines Vaters, der dort arbeitete, war möglich.

Immer mehr Elternteile brachten neue Vorschläge ein und beteiligten sich aktiv. So wurde die Gruppe in eine Fahrschule eingeladen. Dort kamen die Kinder mit den Grundlagen der Verkehrserziehung in Berührung. Es folgte auch der Besuch in einem Gärtnereibetrieb oder der Besuch von „Leseomas”, die in der nahegelegenen Bibliothek Bilderbücher ausgeliehen hatten, um sie den Kindergartenkindern vorzulesen.

Bei den Zusammen-Tagen im 22. Bezirk besuchten die Kinder die SeniorInnenresidenz in der Nachbarschaft. Sie hatten in einer Kinderparlamentssitzung Bilderbücher ausgewählt und beschlossen, die SeniorInnen zu bitten, ihnen diese vorzulesen. Nach positivem Feedback folgte unter anderem ein gemeinsames Erntedankfest sowie ein Rollstuhl- und Bobby-Car-Wettrennen. Die Pädagogin dokumentierte, dass durch diese Tage ein generationsübergreifender Mehrwert sowohl für Kinder, als auch die BewohnerInnen der Residenz zu beobachten war.

„Miteinander statt gegeneinander – Kinderrechte aktuell”, ebenfalls im 22. Bezirk initiiert, hatte als Ziel, dass sich Kinder als Teil des politischen Geschehens und der Gesellschaft verstehen, sowie Respekt voreinander haben. So diskutierten sie in einer Sitzung des Kinderparlaments, welche Rechte Kinder haben (sollten). Für sie wurde nachvollziehbar, dass alle Menschen, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft oder Sprache, dieselben Rechte haben. Sie wurden im Rahmen von Gesprächen gegenüber Vorurteilen sensibilisiert und dazu motiviert, aktiv gegen Unrecht und Diskriminierung vorzugehen.

Bei einem Ausflug ins Demokratikum (im österreichischen Parlament), entdeckten die Kinder, wo das „Manifest der Kinderrechte” verankert ist. Unter anderem wurden die Kinder auch auf den Begriff Rassismus aufmerksam. Anhand von Persönlichkeiten der Weltgeschichte, die VorreiterInnen im Kampf gegen Rassismus waren, wie z. B. Rosa Parks, Malala Yousafzai, Mohammad Ali oder Pele, wurde das Thema erarbeitet. Die Fünf- und Sechsjährigen gingen am Internat. Tag gegen Rassismus sogar mit selbst gestalteten Plakaten und Flyern hinaus in die Öffentlichkeit.

Positives Feedback erhielt das Projekt nicht nur von den Kindern, sondern auch von Eltern, die von und mit ihren Kindern lernten. Auch das Team entwickelte ein Bewusstsein, wie wichtig frühkindliche Bildung im Bereich gesellschaftlicher Entwicklung ist und wie faszinierend auch gesellschaftspolitische Themen für junge Kinder sein können.

Orts- und Stadtteilbegehungen Baustein F thematisiert Beobachtungen im Sozialraum, die im Zuge von Orts- und Stadtteilbegehungen stattfinden. Kinder können ihre Lieblings- und Angstorte definieren, auch deren fotografische Dokumentation kann ein Format darstellen. Durch Erkundungstouren auf Spielplätze der Umgebung oder in der Wohnumgebung der Kinder kann deren Lebenswelt besser sichtbar gemacht werden.

Ein Beispiel für eine Ortsbegehung mit Kindern wurde von einer Pädagogin aus dem 21. Bezirk geschildert. Die Kinderperspektive und die Gelegenheit, erste Erfahrungen mit Selbst- und Mitbestimmung zu sammeln, stand dabei im Mittelpunkt. Zu Projektbeginn wurden zur Frage „Wo wohne ich?” bei gemeinsamen Spaziergängen Fotos von den Wohnhäusern der Kinder angefertigt. Jedes Kind bekam einen eigenen „Grätzl-Stadtplan”, auf dem es mit Klebepunkten den Kindergarten, den eigenen Wohnort und weitere im Alltag des Kindes wichtige Infrastruktur markieren konnte. So wurde die Umgebung des Kindergartens intensiv erkundet. Insbesondere um herauszufinden, was die Kinder an den Orten, die in ihrer Kindheit eine wesentliche Rolle spielen, mögen oder auch gerne verändern würden. Die Kinder wurden ermutigt, über positive und negative Gegebenheiten zu sprechen und sich an der Gestaltung ihrer Umgebung mit Veränderungsvorschlägen zu beteiligen.

Die Kinder kennzeichneten bei ihren Erkundungstouren mit Tafeln, welche Orte ihnen gut und welche weniger gut gefielen. So erhielt die Plastikpalme, als Namensgeberin des „Palmenspielplatzes” im Nahbereich des Kindergartens, ein negatives Markierungsschild. Sie spendete ihrer Ansicht nach nicht genug Schatten für das Spielen und eine „echte Palme” wäre viel ansprechender. Der gesamte Spielplatz wurde jedoch als beliebter Spielort positiv markiert. Die Pädagogin erkannte, dass aktives Hinsehen mit Kindern geübt werden muss. Dann werden sie schnell Begeisterung zeigen und der Blick auf das Lebensumfeld wird zunehmend bewusster.

Fazit

Die Praxisbeispiele zeigen, dass die sozialraumorientierte Arbeit im Kindergarten eine große Bandbreite an Bildungserfahrungen für alle Beteiligten bereithält. Kinder können partizipativ in die Entwicklung von Projekten miteinbezogen werden und diese aktiv mitgestalten. Diese Form des Empowerments kann das Selbstwirksamkeitserleben von Kindern nachhaltig stärken. Darüber hinaus trägt sozialraumorientierte Arbeit im Kindergarten zum besseren Verstehen der Lebenswelten von Kindern und deren Familien bei. Dieser Aspekt bildet ein wertvolles Fundament pädagogischen Handelns. Es wird eine professionelle Orientierung im Raum und eine individuellere Wahrnehmung von Kindern, deren Familien und sozialen Bezügen möglich. Festzuhalten bleibt, dass durch das Arbeiten unter Miteinbezug des Sozialraums ein beachtlicher Mehrwert für das Kind entsteht, welcher entscheidenden Einfluss auf die kindliche Entwicklung nehmen kann.

 

 

Bildnachweis: iStock.com: Nadezhda1906, coscaron

Mag.a Victoria F. Winkelhofer

Jahrgang 1989. Ausgebildete Elementarpädagogin und Lehrende an der BAfEP 21. Studium an der Universität Wien und internationale Tätigkeit im Bildungsbereich mit Schwerpunkt transkulturelle Pädagogik sowie Medienpädagogik.


 

Agnes Wohlmuth, BA, BA, MA

Jahrgang 1978. Ausgebildete Elementarpädagogin. Studium der Bildungswissenschaft an der Universität Wien und Bachelorstudiengang Sozialmanagement in der Elementarpädagogik an der FH Wien. Lehrende an der BAfEP 21 in Wien.


 

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