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Von wert-freier zu wert-voller Beobachtung

Lösungsstrategien für herausfordernde Situationen mit Kindern

 

UKI_6_2022_Artikel

Seit meinem Arbeitsantritt als Sonderkindergartenpädagogin vor fast 25 Jahren sind mir unterschiedlichste Formen der Beobachtungsdokumentation begegnet. Es gab Beobachtungsbögen zum Ausfüllen bzw. Abhaken, Entwicklungsdiagramme, eine Art Malen nach Zahlen oder ganz aktuell das Entwicklungsportfolio. So verschieden die Herangehensweisen auch sein mögen, eines haben sie für mich doch gemeinsam: Dass mir bei keinem davon mit auf den Weg gegeben wurde, was ich im Alltag damit anfangen kann, wenn es zwischen dem Kind und mir zu Reibungspunkten kommt. Ich habe also Unmengen an Informationen über Kinder gesammelt, ohne daraus jenes Know-how zu ziehen, das konstruktive Schlüsse zulässt.

Wenn ein Kind auf der Couch herumhüpfte, anstatt aufzuräumen, oder mit seinen Gummistiefeln um sich warf, anstatt sie anzuziehen, waren mir weder Beobachtungsbogen noch Lerngeschichte eine Hilfe. Dementsprechend hilflos und ausgeliefert habe ich mich manchmal gefühlt. Das Tückische am Ohnmachtsgefühl ist, dass es dazu verleitet, sich zu ermächtigen. Die Situationen, in denen Kinder an mir diese Dynamik erfahren haben, empfinde ich in der nachträglichen Betrachtung weder pädagogisch noch menschlich wertvoll.

Lösungsorientierung

Um die beschriebene Unzufriedenheit zu verändern, habe ich über Jahre hinweg meine Wahrnehmungen von Kindern, von Rahmenbedingungen und meinem Verhalten aufgeschlüsselt und in Zusammenhang Von wertfreier zu wertvoller Beobachtung Lösungsstrategien für herausfordernde Situationen mit Kindern gebracht. Das Ergebnis: Es gibt eine Verbindung zwischen Beobachtung und Lösungsansatz. Sie ist der Schlüssel zur eigenen Handlungsfähigkeit im Umgang mit Spannungsfeldern! Mein Lösungsansatz beruht auf der Erkenntnis, dass Reibungspunkte im Kindergartenalltag meist durch Überforderungen entstehen. Damit ist gemeint, dass meine Ansprüche an das Kind seine Kompetenzen übersteigen. Beobachtungen können dabei helfen, herauszufinden, welcher Anspruch genau das Kind überfordert. Senke ich in diesem Bereich die Erwartungen an das Kind, dann schaffe ich einen Rahmen, den es bewältigen kann. Diese Erleichterung sorgt für spürbare Entlastung aller Beteiligten und verhindert, dass sich festgefahrene Muster, Abwehrhaltungen oder Abwärtsspiralen entwickeln. Dazu zwei konkrete Beispiele:

In der Garderobe:

Wenn sich die Gruppe dazu bereit macht, in den Garten zu gehen, nimmt Cosima eine Abwehrhaltung ein. Anfangs verweigert sie das selbstständige Anziehen in der Garderobe. Im Laufe der Zeit dehnt sich ihr Widerstand immer mehr aus, sodass sie weder die Garderobe betreten noch in den Garten gehen will. Nun werden die bisher gesammelten Beobachtungen mit der Problemsituation abgeglichen.

In unterschiedlichen Settings hat sich bei Cosima gezeigt, dass sie sehr empfindsam auf minimale Wahrnehmungsreize wie eine Obstfliege am Jausentisch reagiert. Ein Reiz wie dieser führt bei ihr zu emotionalen Spannungsreaktionen. Diese Beobachtung lässt den Rückschluss zu, dass Cosima vom Trubel in der Garderobe auf sensorischer Ebene überfordert ist. Was den Widerstand, in den Garten zu gehen, betrifft, so kommen andere Beobachtungen zum Tragen. Insgesamt hat sich bei Cosima gezeigt, dass es ihr leichter fällt, sich an sog. „geführten Aktivitäten“ wie Kreisspielen oder Geschichten zu beteiligen. Ist der Rahmen jedoch offen gestaltet, findet sie nur schwer ins Gruppengeschehen. Insofern nimmt das Mädchen im Garten häufig eine Randposition ein. Meine Beobachtungen weisen hier in Richtung einer sozialen Überforderung, worauf ich mit einer Senkung des Anspruchsniveaus reagiere. Die Ergebnisse werden zeigen, ob sich die aus der Beobachtung gewonnenen Hypothesen im Alltag bestätigen.

Als ersten Lösungsansatz biete ich Cosima an, sich in Begleitung einer Pädagogin im Gruppenraum anzuziehen. Außerdem wird mit ihr ein Korb mit Geschichtensäckchen vorbereitet, den sie in den Garten mitnehmen kann, um ihre Zeit draußen mit einer Geschichte beginnen zu lassen.

Schon diese kleinen Schritte sorgen für spürbare Erleichterung: Cosima verweigert nun im Gruppenraum das Anziehen nicht mehr und beteiligt sich immer aktiver daran. Nach einigen Tagen geht sie nach dem Anziehen unaufgefordert in die Garderobe und wartet dort mit den Kindern, bis alle nach draußen gehen. Auf die Geschichte im Garten freut sie sich. Dementsprechend motiviert geht sie mit hinaus. Die Geschichte auf der Gartenbank weckt auch das Interesse anderer Kinder, sodass die Zeit im Garten für Cosima mit einem sozialen Geschehen beginnt. Danach fällt ihr der Einstieg in die offene Spielsituation leichter. Bereits nach kurzer Zeit will sie im Garten lieber vorher spielen und danach die Geschichte hören. Irgenwann kommt sie gar nicht mehr auf die Geschichte zurück.

An der Kugelbahn:

Im Gruppenraum werden den Kindern Papprollen und Murmeln zum Spielen angeboten. Anton und Marvin begeistern sich besonders dafür. Das Spiel gewinnt allerdings zunehmend an Lautstärke, die sich ungünstig auf die Atmosphäre im Gruppenraum auswirkt. Außerdem kommt es zwischen den beiden Kindern immer mehr zu Spannungen, die letztlich in Streitigkeiten über das Material münden. In der Beobachtung zeigt sich, dass es bei Anton und Marvin um unterschiedliche Themen geht. Anton lässt gerne viele Kugeln gleichzeitig durch die Röhre rollen, die sich anschließend in verschiedene Richtungen verlaufen. Freudig eilt er ihnen beim Einsammeln hinterher. Das Herumlaufen im Gruppenraum macht ihm offenbar solchen Spaß, dass er dabei unweigerlich Freudenlaute von sich gibt. Marvin hingegen fällt es schwer, das Material zu teilen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass er die Einflussnahme anderer Kinder noch nicht in sein Spiel integrieren kann. Diese Überforderung führt zu impulsiven Spannungsreaktionen.

Im Sinn der Lösungsorientierung baut eine Pädagogin gemeinsam mit Anton ein Auffangbecken für die Murmeln. Dadurch wird vermieden, ihn mit der Kombination aus Bewegung und Impulskontrolle zu überfordern. Das Material wird so aufgeteilt, dass Marvin vorerst eine Pappröhre und Murmeln für sich alleine hat. In Abstimmung auf seine Spielbedürfnisse bringt sich eine Pädagogin immer wieder in seine Aktivität ein, sodass er sich schrittweise an einen Spielpartner gewöhnen kann. Beachtlich ist, dass es bald keinen Diskussionsbedarf mehr zur Lautstärke gibt, denn die neuen Spielimpulse führen zu einer merklichen Beruhigung der Spielsituation. Marvin lässt es zu, dass sich seine Pädagogin punktuell in sein Spiel einbringt und es entwickeln sich erste Spielroutinen. Nach und nach können auch andere Kinder dazukommen, sodass entspannte Interaktionen rund um die Kugelbahn möglich werden.

Es kann so einfach sein …

Die beiden genannten Beispiele zeigen auf, dass Lösungsansätze kein pädagogischer Kunstgriff sind, sondern durch gezielte Beobachtung sozusagen auf der Hand liegen. Alles, was es braucht, ist die Definition der Überforderung. Es ist unvermeidlich, dass wir uns dabei anfangs im Bereich der Hypothese, also der Vermutung, befinden. Erst der aktive Impuls zeigt auf, ob sich die Theorie bestätigt. Genausogut kann es sein, dass die Beobachtung vorerst keine konkreten Rückschlüsse zulässt. Dann lässt sich dieses Prinzip auch umkehren. In diesem Fall wird zuerst ein willkürlicher Impuls gesetzt und danach beobachtet, wie das Kind darauf reagiert.

Nehmen wir beispielsweise an, dass ein Kind die Teilnahme am Morgenkreis verweigert und wir unterschiedliche Ansätze mit gewissen Veränderungen erproben wollen: Der Morgenkreis könnte etwa mit einem Bewegungsspiel anstatt wie üblich mit einem Lied beginnen. Und tags darauf findet der Kreis in einer Kleingruppe statt. Beim nächsten Mal wird der Morgenkreis auf einen früheren Zeitpunkt im Tagesablauf vorverlegt etc.

Reagiert das Kind auf eine Maßnahme sichtbar konstruktiv, ist der erste Ansatzpunkt gefunden. Die so gewonnenen Erkenntnisse lassen sich auf andere Problemsituationen im Alltag übertragen und führen zu Lösungen.

Die Frage, ob wir es mit einer solchen Herangehensweise den Kindern nicht zu leicht machen, beantworte ich mit einem klaren Nein. Wenn eine konstruktive Basis zur Spannungsbewältigung geschaffen wird, dann lässt sich darauf mit langsam steigenden Ansprüchen aufbauen. Aus einer ursprünglichen Überforderung wird eine bewältigbare Herausforderung, an der das Kind Schritt für Schritt wachsen kann. Den Rahmen dafür bildet das vom Kind erlebte Vertrauen. Es weiß sich begleitet und angenommen, dort wo es gerade steht.

 

 

Bildnachweis: Heidi Jaros

Heidi Jaros

Jahrgang 1976. Sonderkindergarten- und Outdoorpädagogin mit lanjähriger Berufserfahrung (seit 2017 gruppenführende Funktion im Kindergarten Niedernsill, Land Salzburg); Autorin.


 

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