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Was Macht macht

(Un)bewusste Machtverhältnisse in der Elementarpädagogik

 

UKI_3_2024_Artikel

Ein Kind wird bei der Spazierfahrt im Krippenwagen müde und schließt die Augen. Die Erzieherin erschrickt, als sie das sieht, hebt das Kind sofort aus dem Wagen und stellt das taumelnde Kind auf die Füße. Sie kommentiert: „Das würde dir so passen – jetzt schlafen und nachher wach sein, wenn die anderen schlafen.“ Deshalb muss das Kind nun laufen, um nicht einschlafen zu können (Boll & Remsperger-Kehm, 2020).

„Machtvolle“ Situationen wie diese sind täglich im elementarpädagogischen und professionellen Kontext zu beobachten – so lauten die Ergebnisse namhafter deutscher Studien im Krippen- und Kitabereich, die unter anderem zur Analyse der kinderrechtlichen Qualität in pädagogischen Beziehungen forschen. Zwei davon sind „INTAKT – Soziale INTerAKTionen in pädagogischen Arbeitsfeldern“ (Prengel et al., 2016) oder auch „Verletzendes Verhalten in Kitas“ (Boll & Remsperger-Kehm, 2020).

Macht ist omnipräsent

Macht ist in der Gesellschaft und somit auch in allen pädagogischen Situationen und Beziehungen präsent. Und das größte Machtungleichgewicht besteht zwischen Erwachsenen und Kindern. Denn Erwachsene verfügen grundsätzlich über mehr Macht als Kinder: „Sie sind stärker als Kinder, können mehr, wissen mehr, haben mehr Lebenserfahrung, sind sprachgewandter, verfügen über mehr Ressourcen …“ (Hansen et al., 2015). Die Machtdifferenz zwischen ihnen und den Kindern wird deutlich durch ...

• die Körpergröße

• das Wissen

• die Verfügung über Spiel- und Arbeitsmaterialien und über die Mittel für die kindlichen Bildungs- und Entwicklungsprozesse

• die Wahl, Kindern zuzuhören oder sie (vielleicht sogar ironisch oder zynisch) zurückzuweisen

• das Beantworten oder bewusste Übersehen ihrer Bedürfnisse

• das Bloßstellen oder den Vorzug eines Kindes gegenüber einem anderen (Rabe-Kleberg, 2017).

Diese große Überlegenheit der Erwachsenen erklärt sich sowohl mit dem Entwicklungsvorsprung als auch mit oft (lebens-) wichtigem erzieherischen Einwirken (der sog. Erziehungstatsache), wenn es etwa um die Sicherheit oder Gesundheit eines Kindes geht (Maywald, 2017). Es steht außer Frage, dass es immer wieder Situationen gibt, in denen körperliche Machteinwirkung unvermeidbar ist – wenn ein Kind vor ein Auto läuft oder ein Kind ein anderes verletzt.

Doch warum wird die Machtausübung der Erwachsenen einfach so hingenommen? Kinder gestehen ihnen die Macht zu, weil mächtige Erwachsene für sie schlicht und ergreifend selbstverständlich sind. Sie kommen nicht auf die Idee, diese Hierarchie zu hinterfragen, weil sie diese auch überhaupt nicht als solche wahrnehmen – genauso wenig wie die meisten mächtigen Erwachsenen selbst (Knauer & Hansen, 2010). Kinder werden in diese bestehenden Machtverhältnisse hineingeboren und zweifeln die Erwachsenenmacht in den meisten Fällen auch dann nicht an, wenn diese missbraucht wird. Weitere Erklärungen sind zudem die bedingungslose Liebe (die Kinder Erwachsenen entgegenbringen) und die für Kinder lebenswichtige Vertrauensbeziehung zu den Erwachsenen, die die Kinder abhängig und die Erwachsenen mächtig macht.

Die Macht der Kinder

Wenn (und weil die meisten) Kinder diese alltägliche Ungleichbehandlung akzeptieren, spiegelt sich dies in ihrem Benehmen. Während die einen resignieren und sich passiv verhalten, rebellieren andere und werden oft auch aggressiv (Richter, 2013).

Im zweiten Fall bietet sich die Chance, das oft als ‚gegeben‘ bewertete Machtverhältnis umzukehren. Denn wenn Widerstand geleistet und die Macht nicht mehr anerkannt wird, wird der Machthabende machtlos (Arendt, 1970). Kinder können in derartigen Situationen die Erwachsenen entmächtigen und die gewonnene Macht und die damit verbundenen Mittel nutzen – wenn auch nur begrenzt (Hansen et al., 2015). Sie können traurig sein und weinen, Beschwerden äußern, die eine oder andere pädagogische Fachkraft despektieren, sie können Anweisungen und Regeln missachten, sich zurückziehen, abwenden, ihren Mund verschlossen halten und dadurch eigenmächtig über ihre Nahrungsaufnahme bestimmen. Diese Handlungsweisen sind allerdings nur dann Machtmittel, wenn diese auch als solche verstanden werden, nämlich als Reaktionen auf unangemessene Machtdemonstrationen der Erwachsenen (Rabe-Kleberg, 2017). Oft jedoch bleiben diese Reaktionen vergebliche Versuche, denn Kinder erleben weitaus häufiger Gegenwehr eines mächtigeren Gegenübers als Erwachsene (Hansen et al., 2015). „Die Macht sehr junger Kinder ist gewiss begrenzt und sie fällt öffentlich kaum auf. Aber sie hat oft eine indirekte Wirkung, indem Erwachsene sich im Nachhinein fragen, was sie falsch gemacht haben“ (Liebel, 2020, S. 306).

Treuhänderische und begrenzte Macht auf Zeit

Ob gewollt oder nicht, ist machtvolles Handeln eben ein Teil des pädagogischen Alltags (Hansen et al., 2015). Ein wichtiges Plädoyer von Jörg Maywald (2017) soll an dieser Stelle aber den verantwortungsvollen Umgang der Erwachsenen mit der ihnen zur Verfügung stehenden Macht hervorheben – denn diese ist niemals unbegrenzt: „Vielmehr dürfen sie ihre Macht ausschließlich zur Umsetzung der dem Kind zustehenden Rechte nutzen. Bei der elterlichen bzw. der von den Eltern auf pädagogische Fachkräfte übertragenen Verantwortung handelt es sich also um eine treuhänderische, ausschließlich am Wohl des Kindes orientierte und daher fremdnützige Macht. Es geht um eine begrenzte Macht auf Zeit, die im Laufe der kindlichen Entwicklung immer weiter zurücktreten muss, je nach wachsender Selbstständigkeit und Verantwortungsübernahme durch das Kind selbst.“

Es braucht (kritische) Selbstreflexion

Um dieser pädagogischen Verpflichtung, wie man sie durchaus nennen könnte, angemessen begegnen zu können, braucht es die Bereitschaft, das eigene Handeln kritisch zu betrachten. Einerseits durch biografische, andererseits durch pädagogische Selbstreflexion, welche im Unterschied zu alltäglicher Reflexion pädagogisches Wissen voraussetzt. So werden „eigene Erfahrungen reflektiert, theoretisch eingeordnet, kritisiert und künftige Handlungen geplant“. Diese Kompetenz ist einerseits ein Beleg für Professionalität, andererseits unerlässlich für die Besonderheit der Pädagogik. Denn anders als beispielsweise in der Mathematik, gibt es hier keine Formeln, die angewandt werden können und die ein Gelingen der Situation garantieren. Eine pädagogische Fachkraft kann sich nie sicher sein, dass eine bestimmte Handlung auch zum gewünschten Ziel führt – die Reaktion des Kindes bzw. die Wirkung auf das Kind sind nicht vorhersehbar und zusätzlich individuell variierend. Um aber überhaupt handlungsfähig zu sein, muss die handelnde Person „annehmen“, dass sie weiß, was das eigene Handeln bewirkt (Lambrecht, 2018). Und genau das ist meines Erachtens die zutreffendste Definition von professionellem Handeln.

Es braucht also reflexionswillige pädagogische Fachkräfte, um das ungleiche Machtverhältnis zwischen Groß und Klein in den Fokus und ins Bewusstsein zu rücken. Doch Maywald zufolge fällt es vielen in diesem Bereich Tätigen eher schwer, sich ihre Macht über Kinder einzugestehen. Aus zwei Gründen: einerseits, weil Macht für die meisten im Allgemeinen negativ behaftet ist, andererseits, weil viele Erwachsene das Gefühl „erlittener Ohnmacht“ aus der eigenen Kindheit kennen – und so fällt es schwer, den eigenen Machtstatus zu akzeptieren (2017). Jemand, der mächtiger ist, kann einen anderen gegen seinen Willen zu etwas zwingen, er kann seine Macht dazu verwenden, andere zu benutzen oder auszubeuten. Das ist furchteinflößend! Und welche Pädagogin oder welcher Pädagoge möchte von Kindern schon gefürchtet sein oder das eigene Handeln gar als unmoralisch bewertet sehen? (Hansen et al., 2015)

Doch gemeinsam geht es bekanntlich besser als allein. Sich gemeinschaftlich im Team mit Macht und ihren vielen Aspekten (Macht der Sprache, Macht gegenüber Eltern, Macht unter Kindern, Adultismus, Grenzen und Regeln als Machtdemonstration der Erwachsenen uvm.) auseinanderzusetzen, einen gemeinsamen Inhouse- Fortbildungstag zu verbringen und dabei das eigene Machtbewusstsein zu fördern, könnte demnach gewinnbringend in vielerlei Hinsicht sein. Diese besondere Form der beruflichen Weiterbildung, begleitet durch eine externe Fachkraft, ermöglicht es allen Teammitgliedern, gleichzeitig an einem Thema zu arbeiten und sich in der gewohnten Umgebung der Institution mit der eigenen pädagogischen Haltung und dem konkreten Handeln zu beschäftigen.

Blick durch die Kamera

Doch nicht immer stehen die nötigen Ressourcen zur Verfügung, um in einen oder sogar mehrere Teamtage investieren zu können. Deshalb möchte ich eine recht einfach anwendbare Methode für kritische Selbstreflexion vorstellen: die Videographie. „Sich selbst bei der pädagogischen Arbeit zu filmen ermöglicht es, sich mehr Klarheit zu verschaffen, wie gut (oder schlecht) etwas gelingt” (König, 2010). Die Videoaufnahme bietet Gelegenheit, eine vielfältige Situation im Ganzen einzufangen, sie aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und sie beliebig oft zu wiederholen bzw. zu stoppen. So begünstigt sie eine objektivere Beschreibung und Entwicklung alternativer Handlungsformen (Kücholl & Lazarides, 2021; Fageth, 2022).

Konkret kann dies in der Praxis so aussehen:

1. Ein Smartphone oder Tablet platzieren (so gut versteckt wie möglich, damit es keine Ablenkung/Verfälschung darstellt)

2. Ort, Zeit, Situation, Bildausschnitt u.ä. selbst wählen (wichtig: Information und Einverständnis der gefilmten KollegInnen)

3. Auf Ton- und Videoaufnahme drücken und das Gerät für begrenzte Zeit „laufen lassen“.

Die Aufnahmen können im Nachhinein im Team (oder von einzelnen Teammitgliedern) gesichtet und als Grundlage für reflektierende Gespräche genutzt werden (datenschutzrechtliche Anforderungen beachten).

Genügend gut ist „good enough“ (Donald Winnicott, 1971)

Und bei diesen so wichtigen Selbstreflexions- und Weiterentwicklungsprozessen braucht und gibt es keine Perfektion, weil „menschliches Handeln unvollkommen, widersprüchlich und unvorhersehbar ist“ (Prengel, 2020). Was es aber braucht, ist eine moralische Grundlage, die für eine „genügend gute“ und ethisch vertretbare Pädagogik grundlegend ist. Der allseits bekannte Satz „Was du nicht willst, das[s] man dir tut, das füg auch keinem andern zu“, findet hier seine Bestimmung. Er zeigt die große Verantwortung auf, die jeder Mensch für sich und seine Handlungen trägt (ebd.) und unterstreicht damit die Forderung nach einer proaktiven Auseinandersetzung mit der eigenen Macht Kindern gegenüber.

Kinder sind darauf angewiesen, dass sich unsere pädagogische Macht an ihrem Wohl orientiert: durch professionelle, machtbewusste Beziehungsgestaltung und durch demokratische, kinderrechtliche Erziehung und Partizipation. So wird Macht zum „Möglichkeitsraum“, den Erwachsene und Kinder sich teilen (Liebel, 2020).

Eine ausführliche Literaturliste zu diesem Artikel kann bei der Redaktion angefordert werden: unsere.kinder@caritas-ooe.at

 

 

Bildnachweis: shutterstock

Maria Kulac, BEd

Jahrgang 1986. Elementarpädagogin, (BAfEP Salzburg), BA-Studium Elementarpädagogik (PHDL), Berufserfahrung als KG- und KS-Pädagogin und -leitung, dzt. Leiterin von Eltern-Kind-Gruppen bzw. Elternbildungsangeboten und pädagog. Fachbegleitung bei KOKO Salzburg; (Inhouse-)Fortbildnerin (Oö, Sbg) u.a. auch zum Thema "Macht".

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